Hartwig von Schubert

Hamburg 2016

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Jerusalem und der eine Gott

 

 

Die Könige von Israel und Juda und ihr Gott

 

Der Monotheismus entstammt dem Schnittpunkt dreier Kontinente im antiken Südwestasien. Zu seinem religionsgeschichtlichen Hintergrund seit dem 2. Jahrtausend vor Chr. gehören der Sonnenkult in Ägypten, die Vegetations- und Wettergottheiten in Westasien und die vulkanischen Gottheiten auf der arabischen Halbinsel. Sie alle begegnen sich auf der kanaanäisch-syrophönizischen Landbrücke und dies nachweisbar vor allem in einer Stadt der südlichen Levante, in Jerusalem.[1]

 

Seit etwa 1700 v. Chr. ist das kanaanäische Jerusalem als befestigte Stadt nachweisbar. Zu Beginn des 10. Jhdts. wandelte sich das Gebiets- und Clankönigtum des Benjaminiters Saul nach einem Coup und der Einnahme Jerusalems durch den Freischärler David in ein Patrimonialkönigtum mit Metropole und wachsender territorialer Ausdehnung. Mit David zog der südjordanisch-nordarabische Kult des Sturm- und Kampfgottes JHWH in die Stadt ein, ohne die Dominanz des städtischen Sonnenkultes infrage zu stellen. Vielmehr vereinigten sich im Jerusalemer Kult nach der Errichtung eines geschlossenen Tempels durch Salomo, dem Nachfolger Davids, solare, uranische und vulkanische Attribute aus allen drei angrenzenden Erdteilen. Diese Verschmelzung von Funktionen in einer Gottheit erhöhte die Wahrscheinlichkeit ihrer verbreiteten alleinigen Anerkennung.

 

Ab ca. 930 v. Chr. etablierte sich in Mittel- und Nordpalästina ein von Jerusalem unabhängiges Königreich Israel unter den Omriden mit der späteren Metropole Samaria neben dem südpalästinischen Jerusalemer Königreich Juda unter den Davididen. Ein JHWH-Kult in Beth-El mit einem Stierbild und dem Auszug aus Ägypten als Gründungsmythos, die hebräische Sprache sowie eine Verbindung beider Dynastien in der Mitte des 9. Jhdts. dokumentieren die kulturelle Verwandtschaft des südlichen Juda mit dem nördlichen Israel. Zeitweise waren die judäisch-davidischen Könige Vasallen der Könige Israels. Ab ca. 750 v. Chr. traten mit Amos und Hosea im Nordreich und Jesaja und seiner Schule im Südreich Propheten parallel zum Aufstieg und der Ausbreitung des mittelassyrischen Reiches in Mesopotamien auf. Ihnen wurde die Aufgabe zugeschrieben, das soziale und politische Geschehen im Geist der Gottheit zu kommentieren und die Eliten insbesondere angesichts der gefährlichen Mittellage zwischen Mesopotamien und Ägypten kritisch zu beraten. Sie waren bereits Monotheisten in dem Sinn, dass JHWH für sie der Herr der Geschichte ist, andere Gottheiten werden gar nicht erwähnt. 701 v. Chr. verwüstete eine assyrische Strafexpedition den syrisch-palästinischen Raum, Jerusalem unter König Hiskia blieb wie durch ein Wunder verschont. Nationalreligiöse Kreise folgerten daraus die Unbesiegbarkeit JHWH’s, die Uneinnehmbarkeit Jerusalems und die Unzerstörbarkeit des Tempels.

 

Nach der Zerstörung Israels und Samarias durch die Assyrer 722 v. Chr. setzten judäische und israelitische JHWH-Priester im verschont gebliebenen Jerusalem die Interpretation durch, die Vernichtung des Nordreichs durch die Assyrer sei die Strafe Gottes für die Tolerierung anderer Kulte in Israel. Die Niederlage des Volkes wurde in einen Sieg seines Gottes umgedeutet: Bei Einhaltung der Gesetze und der alleinigen Verehrung JHWHs sei die jüdische Kult- und Volksgemeinschaft unbesiegbar. Propheten wie Hesekiel in Babylon und Jeremia in Jerusalem warnten dringend vor dieser Art der vielleicht durch assyrische Propaganda angeheizten Selbstgewissheit.[2] Im letzten Drittel des 7. Jhdts. setzte die Jerusalemer Priesterschaft unter dem jungen König Joschia eine exklusive Kultzentralisation auf dem Zion durch. Bereits 605 n. Chr. lösten die Babylonier die assyrische Herrschaft ab. Die Nationalreligiösen sahen sich bestätigt. Israel und Juda wurden jedoch 586 v. Chr. nach einem ebenso tollkühnen wie vergeblichen Aufstand gegen die Babylonier vernichtet, Jerusalem und der Tempel wurden zerstört, große Teile der Bevölkerung deportiert.

 

Die nun erst vollständige Katastrophe löste eine Vielzahl von Deutungen aus von der bereits skizzierten Selbstanklage bis zu bitteren Vorwürfen gegen JHWH (Klagelieder), von der skeptischen Abwendung vom JHWH-Kult bis zur Lockerung des Kultus vom nationalen Kontext (Jonabuch). Die Perser eroberten 538 v. Chr. Babylonien, ihr König Kyros der Große stellte den Juden die Rückkehr frei. Neben Jerusalem entstanden andere Zentren jüdischen Gemeindelebens, vor allem für viele Jahrhunderte in Sura und Pumbedita nahe dem heutigen irakischen Falludscha, aber auch in Ägypten – archäologisch gut dokumentiert in der jüdischen Garnison von Elephantine nahe Assuan – und dem heutigen Libyen, der Cyrenaika und Cypern, z.B. belegt durch die Quellen über den jüdischen Aufstand unter Trajan 115 – 117 n.Chr. Im Römischen Reich beherbergte z.B. die Stadt Antiochia – heute Antakya im Süden der Türkei nahe der syrischen Grenze – zusammen mit dem ägyptischen Alexandria und später Konstantinopel als eine der bedeutendsten Metropolen im östlichen Mittelmeerraum eine große jüdische Gemeinde und wurde zu einem der Zentren des frühen Christentums.

 

Die zeitlich versetzte Doppelkatastrophe Israels im Jahr 722 v. Chr. durch die assyrische und Judas 586 v. Chr. durch die babylonische Invasion und die Ausbreitung des Judentums im Persischen Großreich seit 539 v.Chr. sowie schließlich spätestens seit 338 v. Chr. die Begegnung mit dem Hellenismus in den aus den Alexanderzügen hervorgehenden Diadochenreichen provozierte den Glauben an die eine Macht hinter den Mächten, den einen Gott hinter den Göttern, also eine raum- und zeitüberdauernde Schöpfung und Ordnung der Welt durch die eigene universale Gottheit. Angesichts der historisch vergleichsweise schnellen Folge von Aufstieg und Untergang großer Mächte machte der Wechsel zum jeweils neuen herrschenden Kultbild wenig Sinn. Darin erkannte der immer wieder überlebende und nicht mehr ortsfixierte jüdische Glaube die Überlegenheit des eigenen, einen und unsichtbaren Gottes. Wesentliche Voraussetzung dieser Deutungstradition war eine über Jahrhunderte hinweg kontinuierliche literarische Pflege heiliger Schriften, ohne welche Geschichte weder als Heils- noch als Unheilsgeschichte in den Blick geraten würde. Insbesondere arbeiteten sich die jüdischen Lehrhäuser an der Erfahrung des nationalen Untergangs und der Zerstreuung sowie der generellen Willkürlichkeit des Schicksals und der Vergänglichkeit des Lebens ab. Hier vermutlich liegt der Grund einerseits für die eigentümliche und tragische Schwere der biblischen Religion, andererseits aber auch für die messianische Friedenssehnsucht und die Offenheit und Integrationskraft hinsichtlich der unzähligen Einflüsse aus umliegenden Kulturen. Hiermit traf sie insbesondere das Lebensgefühl der Massen von Verlierern der Zivilisationsprozesse.

 

 

Die Zehn-Worte

 

Nehmen wir ein Beispiel: Die „Zehn Gebote“ – genau gesagt, die „Zehn Worte“, denn so heißen sie im Hebräischen (aseret ha-dibberot) und auch im Griechischen (dekalogos), denn es sind ja auch zehn Worte – umfassen eine Selbstvorstellung und neun Gebote.

 

Ich bin der HERR, dein Gott, der ich dich aus Ägyptenland, aus der Knechtschaft, geführt habe.

1. Du sollst keine anderen Götter haben neben mir. Du sollst dir kein Bildnis ... machen, ....

2. Du sollst den Namen des HERRN, deines Gottes, nicht missbrauchen; denn der HERR wird den nicht ungestraft lassen, der seinen Namen missbraucht.

3. Gedenke des Sabbattages, dass du ihn heiligest. Sechs Tage sollst du arbeiten und alle deine Werke tun. Aber am siebenten Tage ist der Sabbat des HERRN, deines Gottes. Da sollst du keine Arbeit tun, auch nicht dein Sohn, deine Tochter, dein Knecht, deine Magd, dein Vieh, auch nicht dein Fremdling, der in deiner Stadt lebt...

4. Du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren, auf dass du lange lebest in dem Lande, das dir der HERR, dein Gott, geben wird.

5. Du sollst nicht töten.

6. Du sollst nicht ehebrechen.

7. Du sollst nicht stehlen.

8. Du sollst nicht falsch Zeugnis reden wider deinen Nächsten.

9. Du sollst nicht begehren deines Nächsten Haus. Du sollst nicht begehren deines Nächsten Frau, Knecht, Magd, Rind, Esel noch alles, was dein Nächster hat.

 

Welche Botschaft verbindet sich mit den Zehn-Worten? Sie wenden sich an den erwachsenen, männlichen Hebräer und stehen zweimal in der Bibel – Ex 20 und Dtn 5 – und leiten beide Male größere Gesetzessammlungen als Präambeltexte ein, können also formal durchaus als Kristallisation politisch-rechtlicher Orientierung gelten. Das bestätigt sich auch inhaltlich, denn sie fordern dazu auf, Handlungen zu unterlassen, die ein friedliches Zusammenleben tiefgreifend bedrohen. Die Pointe der sicherlich ungewöhnlichen Auslegung, auf die ich mich im Folgenden beziehe, liegt darin, ein inneres Prinzip freizulegen und nicht einfach eine Addition von Verboten in einer ersten Tafel des sakralen und einer zweiten Tafel des profanen Rechtes zu vermuten.[3] Das Prinzip lautet: Ein gemeinschaftliches Leben in Freiheit ist eine kostbare Gabe Gottes, Gott will unser Leben und nicht unseren Tod. Die neun Gebote präsentieren wie ein sorgfältig gewobener orientalischer Teppich einen geschützten Garten des Lebens, die Zahl Neun erlaubt eine Symmetrie aus Vier plus Eins plus Vier. In der Mitte steht mit der Fünf das zentrale Tötungsverbot. Diese Mitte des Gartens wird durch weitere Weisungen in konzentrischen Ringen wie mit Zäunen gesichert. Der Sohn sorgt für seine Eltern bis in deren hohes Alter, er und seine Rechtsgenossen brechen nicht gegenseitig in ihre Ehen ein, sie müssen ihre Frauen nicht voreinander verstecken, ihre Kinder genießen Geborgenheit (erster Ring aus dem vierten und sechsten Gebot: familiäre Solidarität und Familienrecht). Die hebräischen Familienverbände gewähren ihrem Gesinde, ihrem Vieh und ihren Gästen im Siebentagezyklus Erholung, und die Bewohner einer Hofstelle bestehlen sich nicht (zweiter Ring aus dem dritten und siebten Gebot: Arbeits- und Sozialrecht). In den Toren der nahegelegenen Stadt verleumdet keine Hofgemeinschaft die andere vor Gericht und schwört keinen Meineid (dritter Ring aus dem zweiten und achten Gebot: Zivil- und Strafprozessrecht). Der weise Jude ist nicht von Gier getrieben und bleibt gelassen gegenüber dem Wandel des Schicksals (vierter Ring aus dem ersten und neunten Gebot: Mentalitäts- und Tugendbildung). Alles zusammen mit dem Tötungsverbot als Zentralachse gewährleistet einen rechtlich-moralisch geschützten Lebensraum.

 

Mit dem Dekalog und den übrigen bis heute gesellschaftlich außerordentlich geschichtswirksamen Rechtstexten der fünf Bücher Mose (Pentateuch) hatte das antike Israel seit dem 8. Jht. v.Chr. Anteil an den hochentwickelten altorientalischen Rechtskulturen.[4] Speziell priesterliche Stoffe wie Sintfluterzählung und Noachbund stammen vermutlich aus der spätexilischen-frühnachexilischen babylonisch-persischen Zeit (587/586 – 333/2 v.Chr.). Der Dekalog gehört innerhalb der hebräischen Bibel zur Familie der deuteronomischen Literatur und spiegelt nach dem Erlöschen der Ausprägungen altisraelitischer Religion in den selbständigen Staaten Juda und Israel den Übergang zum internationalen „Judentum“.

 

Den wirklich endgültigen Verlust jeglicher Eigenstaatlichkeit nach dem Bar-Kochba-Aufstand 135 n.Chr. überlebte das Judentum dank seiner beweglichen geistigen Traditionen als nichtstaatliche Assoziation in vielen, sehr unterschiedlichen Fremdkulturen und legte sich dort auf die Prinzipien eines Selbstverständnisses fest, das zusammen mit ähnlichen Traditionen anderer Kulturen bis heute die Grundlagen zivilisierter moderner bürgerlicher Moral liefert. Das Gebot der Zentralisation des Kults in Jerusalem und die Anlehnung der jüdischen Bundestheologie an altorientalische Vasallenverträge machten den Willen zur Einheit deutlich, erhoben die Stadt Jerusalem zum überregionalen Wallfahrtszentrum und ebneten dem Monotheismus einmal mehr den Weg. Die Kultreligion wandelte sich jenseits und nach dem Untergang des Kultzentrums in eine Buchreligion, die Rechtsauslegung verwandelt sich in predigtartige Erziehung, das höfische wich einem bürgerlichen, insbesondere das Familienleben und die Sexualethik maßgeblich prägenden Lebensideal.[5] Die Auslegung der jüdischen Thora sollte von nun an, vermittelt durch die europäische Religionsgeschichte, maßgeblich zur Ausbildung aufgeklärter bürgerlicher Gesellschaften beitragen.[6] Insbesondere die Kontroversen um die dynastische Legitimation der Davididen im dtr. Geschichtswerk und ihre Transformation in den prophetischen Messianismus des spätantiken Judentums[7] haben in der politischen Ideengeschichte Europas sowohl die Legitimation von Herrschaft als auch deren Kritik maßgeblich beeinflusst.[8] In der imaginären Bedeutungsgebung sozialer Praktiken steht dem Ethnos des irdischen Israel der Demos des wahren Israel gegenüber und das nicht etwa erst bei den frühchristlichen Autoren. Insbesondere die Kult- und Gesellschaftskritik der exilisch-nachexilischen Prophetie kennt ein untreues und gefallenes Israel, aus dem ein durch das Gericht Gottes geläuterter und erneuerter Rest hervorgeht.[9] Am Topos Israel kann bis heute geradezu paradigmatisch die weit verbreitete Polarität von geschichtlich-partikularen Völkern (Nationen) und legal-rational-universalem Staat entwickelt werden.[10] Dem zeitlichen Reich der Notwendigkeit steht ein messianisch-eschatologisches Reich des Geistes und der Freiheit gegenüber.[11]

 

 

Von der pazifistischen Bergpredigt zum christlichen Staat

 

Während die Befolgung des Dekalogs jüdische Gemeinschaften in der Zerstreuung charakterisiert und sie von anderen Gemeinschaften unterscheidbar macht, kann man dies von der Bergpredigt im Blick auf christliche Gemeinden so einfach vermutlich nicht sagen.

 

„Ihr habt gehört, dass gesagt worden ist: Auge für Auge und Zahn für Zahn. Ich aber sage euch: Leistet dem, der euch etwas Böses antut, keinen Widerstand, sondern wenn dich einer auf die rechte Wange schlägt, dann halt ihm auch die andere hin. Und wenn dich einer vor Gericht bringen will, um dir das Hemd wegzunehmen, dann lass ihm auch den Mantel. Und wenn dich einer zwingen will, eine Meile mit ihm zu gehen, dann geh zwei mit ihm.“

„Ihr habt gehört, dass gesagt worden ist: Du sollst deinen Nächsten lieben und deinen Feind hassen. Ich aber sage euch: Liebt eure Feinde und betet für die, die euch verfolgen, damit ihr Söhne eures Vaters im Himmel werdet; denn er lässt seine Sonne aufgehen über Bösen und Guten, und er lässt regnen über Gerechte und Ungerechte.“ (Matthäus 5, 38-45)

 

Albert Camus lässt seinen „Fremden“ am Ende der gleichnamigen Erzählung von 1942 die „zärtliche Gleichgültigkeit der Welt“ empfinden.[12] Mit der Bergpredigt könnten wir von der „zärtlichen Gleichgültigkeit des Vaters“ sprechen. So sehr diese Lehre auch durch ihre Großherzigkeit überzeugt, wie soll ihre Befolgung im Alltag dauerhaft funktionieren? Die beiden zitierten Passagen stehen für den universalen und radikalpazifistischen Anspruch der so genannten Antithesen der Bergpredigt und damit als Signum der urchristlichen universalistischen Kulturrevolution. Diese enorm anspruchsvolle Lebensauffassung verstärkt durch das Schicksal ihres Verkünders erlaubte es nicht, die Botschaft in die überkommenden jüdischen Traditionen einzufügen, sie überschritt nicht nur die ethnischen Grenzen, sondern überhaupt das im Alltag Menschenmögliche. Vieles davon drängte auf die Entstehung einer neuen Religion, wenn nicht gar einer Meta-Religion, auf das Bild von einem Reich Gottes, das der gesamten, bisher sorgsam in heilig und profan geschiedenen Welt richtend gegenüberstand. Diese Entwicklung vollzog sich vermutlich schrittweise und zunächst weniger bewusst und programmatisch, als vielmehr praktisch durch die Aufnahme bisher Fremder in die religiöse Geselligkeit kultischer Feiern.

 

Die Grundlage dieser Ethik war der Aufruf zur ausschließlich theonomen Selbstbestimmung (Freiheit vom Gesetz der Sünde) und zur Überwindung der Angst (Freiheit vom Gesetz des Todes). Sie entfaltete sich in der doppelten Form der Nächsten- und Feindesliebe und der Relativierung jeglichen weltlichen Status’. Beides wiederum mündete innerhalb der Gemeinden in der gleichzeitigen Demokratisierung und Aristokratisierung von Herrschaft, Besitz und Wissen. Die üblichen Tugenden der Unterschicht wie Demut und Bescheidenheit wurden nicht devot, sondern mit souveränem und gelassenem Selbstbewusstsein vertreten. Traditionelle Werte der Oberschicht wie Gastfreundschaft und das Reden in der Öffentlichkeit wurden allen Gliedern der Gemeinde zugänglich gemacht.[13]

Das jüdische Gesetz war damit nicht abgeschafft, sondern lieferte auch den frühen Christen weiterhin entscheidende Grundlagen, um im Bund mit Gott zu bleiben, aber es begründete den Bund nicht mehr. Griechen, Römer und Perser, Ägypter und Äthiopier, Kelten und Germanen mussten nicht Juden werden, um zu dem einen Gott zu gehören; auch Juden freilich konnten Juden bleiben. Ausgelöst wurde dieser Wandel nach dem Schwinden des ersten Jüngerkreises um Jesus und dem Wachstum der Urgemeinde in Jerusalem durch den Ausgang des Konfliktes zwischen den Christen aus Galiläa und Judäa, den sogenannten „Hebräern“, und den Judenchristen aus der Diaspora, den „Hellenisten“. Nach der Zerstörung des Tempels im Jüdischen Krieg (66-74 n. Chr.) musste sich das Judentum reorganisieren, dabei verstärkte sich u.a. die Abgrenzung zwischen Judentum und Judenchristentum. In Antiochia, einer der vier Großstädte des Imperiums, rückten dafür jüdische und nichtjüdische Christen („Heidenchristen“) näher zusammen, von dort nahm die systematische Missionstätigkeit der Apostel Barnabas und Paulus ihren Ausgang. Mit ihren noch vor dem Krieg zwischen 50 und 60 n. Chr. verfassten Briefen begann nachweisbar der Übergang von der mündlichen zur schriftlichen Überlieferung. Wer die Forschungsergebnisse zur Textgeschichte des Neuen Testaments sichtet, ist oftmals überrascht, dass sich von den frühesten Handschriften an bis zum Mittelalter kaum Änderungen zeigen.[14] Die allgemeine Anerkennung neutestamentlicher Schriften durch maßgebliche, wenn auch noch sehr schwach organisierte Autoritäten vollzog sich demnach größtenteils schon kurz nach der ersten Jahrhundertwende. Die im 4. Jhdt. abgeschlossene Kanonisierung kam der Bildung einer staatsrömischen Amtskirche sogar zuvor. Das bestätigt protestantische Intuitionen, dass der Kanon eher die Kirche als die Kirche den Kanon geschaffen hat. Aber letztlich sind wohl beide gleichursprünglich.

 

Nach dem Apostelkonvent im Jahr 48 n. Chr. nahm die Gruppe um Paulus ihre eigenständige Missionstätigkeit auf, ohne die jüdischen Beschneidungs- und Speisegebote zu beachten. Die Briefe des Apostels aus der Zeit zwischen 50 und 56 n. Chr. vermitteln einen authentischen Eindruck seines Denkens und seiner Wirksamkeit in Galatien, Makedonien und in der Achaia und schließlich in Rom.[15] „Hier ist nicht Jude noch Grieche, hier ist nicht Sklave noch Freier, hier ist nicht Mann noch Frau; denn ihr seid alle einer in Christus Jesus“ (Gal 3, 28). Von welchem Motiv wurde diese epochale, universalistische und durchaus auch in der Praxis – Philemonbrief[16] – bestätigte Aussage geleitet? Sollte sie den Adressatenkreis und damit den Einflussbereich des Apostels mehren? Noch war die Situation des frühen Christentums weit davon entfernt, so etwas wie „imperiale Kirchenpolitik“ zu betreiben; aber um die Behauptung seines universalen Apostolats ging es Paulus durchaus. Und überdies lag das Motiv in der Botschaft selbst, die der Apostel vertrat. Es lag auf einer Linie mit der Botschaft Jesu von der von ihm errichteten souveränen und universalen und deshalb universal inklusiven Gottesherrschaft.[17]

 

Der eben deshalb moralisch tendenziell anspruchsvolle Lebensstil, der sich je nach Kontext eher am Gegensatz „jüdisch versus nicht-jüdisch“ ausrichtete (Matthäus und Johannes) oder an dem Vorbild einer Gerechtigkeit, die besser ist, als die sonst übliche (Lukas und Paulus), konnte sich auf weite Strecken sehr wohl an der Tora Israels orientieren. Diese wurde aber in der Tradition prophetischer Gesellschaftskritik neu ausgerichtet, wobei alle ethnisch bedingten Elemente wie Beschneidung und Speiseregeln zugunsten innerer Tugenden zurücktraten. Diese interkulturell flexible Lebensweise erschien offensichtlich vielen Menschen so attraktiv und öffnete einen so weiten Spielraum , dass sich aus ihr im Laufe von drei Jahrhunderten eine universal-imperiale Kirche mit einem breiten Kanon orthodoxer Theologie und aus der frühmittelalterlichen klösterlichen und universitären Bildung heraus noch einmal ein Jahrtausend später das Programm einer wissenschaftlich-industriell expansiven Zivilisation namens „Moderne“ entwickeln konnte.

 

Eine wichtige Konsequenz aus der Radikalisierung der ethischen Forderung war die bereits im Judentum angelegte prinzipielle Trennung von Religion und Politik, von Kirche und Staat. Das lässt sich gut an der Herausbildung eines rechtlich kontrollierten Gewaltmonopols zeigen. In der Mitte der jüdischen Rechtskultur stand das Verbot der Tötung und seiner Ahndung. Der Kontext der übrigen Gebote des Dekaloges sowie der angrenzenden Rechtsbestimmungen zeigt, dass damit jedes Glied einer menschlichen Gemeinschaft in apodiktischer Eindeutigkeit dazu verpflichtet wurde, alles zu unterlassen, was eine vorsätzliche oder auch nicht vorsätzliche Gefährdung für Leib und Leben, Freiheit und Frieden eines anderen Mitgliedes dieser Gemeinschaft darstellen kann. Nur dann, wenn einer solch gewaltsamen Gefährdung nicht anders wirksam begegnet werden konnte, als wiederum mit potentiell tödlicher Gegengewalt, war eine Ausnahme vom apodiktischen Tötungsverbot unausweichlich, wenn sich denn lebensbedrohliche Gewalthandlungen und damit die Tötung von Menschen nicht ungehindert ausbreiten sollten. Deshalb heißt es im noachitischen Gesetz ebenfalls lapidar und apodiktisch „Wer Menschenblut vergießt, des Blut soll auch durch Menschen vergossen werden; denn Gott hat den Menschen nach seinem Bilde gemacht“ (Gen 9,6).[18] Damit wurde das Tötungsverbot des Dekaloges keineswegs aufgehoben, sondern mittels der unerbittlich sühnenden Sanktionierung zur Geltung gebracht. Nur um das Töten zu ahnden und zu verhindern, durfte und musste, wenn es denn wirklich gar nicht anders möglich war, notfalls getötet werden. Gewalt war nur gegen Gewalt legitim, wurde hier nicht nur erlaubt, sondern geradezu geboten. Deshalb war nun einsichtig, dass die Sphäre der Gewalt selbst in ihren noch eher harmlosen Stadien erst gar nicht betreten werden durfte. Alle übrigen genau genommen acht Gebote des Dekaloges stehen insofern – bis in die Textkomposition hinein – ringförmig als Zäune um das fünfte und zentrale Tötungsverbot, um kritische Konfliktfelder bereits im Vorfeld zu entschärfen. In einer erfolgreich zivilisierten Gesellschaft muss es keine Todesstrafe und erst recht keinen Krieg geben. Diese Gesellschaft folgt vielmehr den Regeln bürgerlich zivilisierten Zusammenlebens und dem Leitbild eines Freiheit und Gerechtigkeit vermittelnden Friedens.

 

Das Tötungsverbot des biblischen Dekalogs, seine Sanktionierung durch die Todesstrafe im noachitischen Bund sowie schließlich deren verfahrensrechtliche Regulierung liefern das Beispiel eines bis heute lebendig tradierten fundamentalen Rechtssatzes der orientalischen Antike und seiner Ausdifferenzierungen. „Wer einen Menschen so schlägt, dass er stirbt, wird mit dem Tod bestraft. Wenn er ihm aber nicht aufgelauert hat, sondern Gott es durch seine Hand geschehen ließ, werde ich dir einen Ort festsetzen, an den er fliehen kann. Hat einer vorsätzlich gehandelt und seinen Mitbürger aus dem Hinterhalt umgebracht, sollst du ihn von meinem Altar wegholen, damit er stirbt“ (Ex 21, 12-14). Tötungshandlungen wurden nun unterschieden in nichtvorsätzliches und vorsätzliches Töten, also in Totschlag und Mord. Allein auf den Mord wiederum reagierte das rechtssanktionierende Töten. Diese äußerste Möglichkeit menschlicher Machtausübung unterliegt in einer zivilisierten Gesellschaft dem Recht. Sie kommt dort auch nur für die Durchsetzung elementarer Lebensschutzbestimmungen infrage. In der Antike betraf dies Mord, Ehebruch und den Frevel gegen die Gottheit.

 

Die Antithesen der Bergpredigt steigerten diese Spannung nun noch einmal durch den überbietenden ethischen Anspruch, sogar die Feinde zu lieben, den Gedanken der Kooperation also auch auf den Konfliktgegner auszudehnen.[19] Spätestens mit diesem messianischen, universal inklusiven Anspruch traten zwei Linien fast diametral auseinander. Eine priesterlich-weisheitlich-geschichtliche Linie nahm aus der Umwelt die ein- und ausgrenzenden „weltlichen“ Ordnungsmaßstäbe auf. Eine prophetisch-apokalyptisch-eschatologische Linie nahm die unbegrenzten „geistlichen“ Lebens- und Verhaltensregeln auf und begab sich damit in die Sphäre des Wunders und der Passion. Insbesondere das absolute Gewaltverbot der Bergpredigt (Matthäus 5, 9 und 39), welches nicht aus dem überlieferten Gesetz hervorgeht, dokumentiert die Autorität eines „Gründers und Gesetzgebers eines neuen Reichs“, mit der Jesus sich seinen ersten vier Jüngern und den unbestimmten „Vielen“ vorstellte. Der Reichsgründer selbst wiederum wurde durch den Verlauf und Rahmen des gesamten Evangeliums autorisiert, einschließlich der Passion. Dieses Ethos führt ans Kreuz. Sowohl die Briefe des Paulus[20] als auch besonders die Literatur der johanneischen Gemeinden[21] spiegeln diesen Dualismus vom Reich der Freiheit und dem Reich des Gesetzes, dem Leben der Welt und dem Leben im Geist.

 

 

Europäische Religionsgeschichte

 

Um meine Einschätzung des Beitrags des Monotheismus zu einer politischen Ethik der Moderne gebührend abzurunden, zähle ich einige für das Verhältnis von Politik und Religion exemplarische Daten der europäischen Religionsgeschichte auf und schöpfe dazu aus einer auf inzwischen 14 Bände angewachsenen Geschichte des Christentums.[22] Erläuterungsbedürftig ist in einer solchen Gesamtschau nicht nur der Aufstieg einer kleinen jüdischen Sekte zur ersten „Weltreligion“, sondern der Beitrag dieser Religion zur Konstituierung des „Westens“ und der „Moderne“.

 

In eine Liste im genannten Sinne gehört der Konflikt zwischen der frühen Kirche und dem Imperium[23], die Rolle der Christen in den Konflikten der antiken Kulturen[24], die Konstantinische Wende[25], die Anfänge der Vergesellschaftung und Inkulturation des Christentums[26], die Folgen der Trennung in östliches und westliches Christentum[27], hier insbesondere die karolingische Reichsutopie[28], die Balance zwischen geistlicher und weltlicher Macht in Byzanz[29], im Westen das Erstarken des Papsttums, der Investiturstreit und seine langfristigen Folgen[30], die Rolle der Mission in der europäischen Expansion[31], Reformation und Gegenreformation sowie das Zeitalter des Konfessionalismus[32], der Prozess der Säkularisierung seit der frühen Aufklärung und die Konfrontation zwischen Kirchen und Moderne[33], soziale, liberale und antiliberale, klerikale und antiklerikale Kämpfe im Westen[34], das orthodoxe Kaisertum in Russland[35], die puritanische Revolution in Nordamerika[36], das Christentum in der ersten Hälfte des 20. Jhdts. zwischen Weltkrieg, Totalitarismus und Demokratie[37]; das Christentum in den Zivilgesellschaften in der zweiten Hälfte des 20. Jhdts.[38]. In jeder dieser Konstellationen variiert das Verhältnis von Religion und Politik; normativ gültig im Sinne einer Menschenrechtsethik werden alle Momente, die auf Religionsfreiheit und damit auf eine Säkularisation im Sinne der Entkopplung von Religion und Politik zulaufen, die jedoch die Religion im öffentlichen Raum grundsätzlich begrüßt.

 

Die diese gesamte Entwicklung prägende Weichenstellung lag im frühen 4. Jhdt., damals wurde der Monotheismus in Gestalt des Christentums endgültig zu einer geschichtswirksamen Kraft, die im Kontext der Menschheitsgeschichte den Vergleich mit der Entwicklung des aufrechten Ganges, der Sprache und der Beherrschung des Feuers, der neolithischen Revolution und der Erfindung der Schrift nicht zu scheuen braucht. Der als „Konstantinische Wende“ bekannte Beginn der Christianisierung des Imperiums und damit Europas stellt für diesen Aufstieg die maßgebliche Epochenschwelle dar. Die gesamten beiden ersten zwei Jahrhunderte hindurch blieb das Christentum eine kleine, unbedeutende, zumeist von Verfolgung bedrohte religiöse Gruppierung im Schatten des Judentums und in einem Universum polytheistischer Kulte. Auch nach der „Konversion“ Konstantins zum Christentum im Jahr 312 n.Chr.[39] dauerte es noch bis zum Ende des Jahrhunderts, bis Theodosius im Jahr 391 n. Chr. den endgültigen Bruch mit der paganen Tradition einleitete[40] und seine Nachfolger diese im ersten Viertel des 5. Jhdts. um die rigorose Unterdrückung abweichender Theologien und des Judentums erweiterten.

Welches waren die langfristigen Folgen? Die neue Staatsreligion hatte künftig nicht nur massive dogmenpolitische Konflikte zu verarbeiten[41], sondern dabei grundsätzlich die konfliktträchtige Beziehung zwischen geistlicher und weltlicher Macht zu klären. In Byzanz siegte der „Cäsaropapismus“: der Kaiser setzte sich als letzter Schiedsrichter in theologischen Debatten und höchster Sachwalter der wahren Lehre durch[42]; im Westen konnten die Bischöfe und Theologen ihre geistliche Unabhängigkeit gegenüber dem Hof behaupten[43]. Gerade das Beispiel des vergleichsweise toleranten Konstantin zeigt, dass die Legitimation im permanenten Kampf um die Macht in einem Großraum wie dem des Imperiums sowohl in den Augen der Bevölkerung als auch bei den ethnisch zunehmend heterogenen Truppen ohne einen starken, universalen Mythos schlechterdings nicht denkbar war. Keine geringeren als die Götter ordneten das Schicksal, die Zeit und den Raum, gaben den Sieg auf dem Schlachtfeld, setzten die Augusti und ihre Cäsaren ein, stifteten die Einheit des Reiches und gewährten Frieden und Wohlstand. Seit Konstantin gingen diese Aufgaben auf den christlichen Gott über. Dem Augustus wiederum oblag von Amts wegen, durch gerechte Gesetze und Urteile Zorn und Strafe des Christus Pantokrator abzuwenden, theologische Streitfälle zu befrieden und die äußeren Bedingungen für den wahren Gottesdienst zu gewährleisten. Aufgrund seiner geographischen Ausbreitung und imperialen Bedeutung konnte das Christentum gar nicht anders als eminent politisch werden. Für die Gemeinden der Bergpredigt wäre dies gar nicht vorstellbar gewesen, vielleicht in Ansätzen für die Gemeinden des lukanischen Geschichtswerks. Die erfolgreiche Inkulturation der jungen Religion aber wäre gar nicht möglich gewesen, hätte das Christentum sich in den antiken Kulturen in den drei Jahrhunderten seiner Entstehung ausschließlich in seinen asketischen und apokalyptischen Ausprägungen gezeigt und nicht auch sehr deutlich als wohlorganisierte, auch in der Verfolgung standhafte, gesellschaftlich integrierte und integrierende Kraft bewährt[44]. Damit aber waren die Grundlagen für den epochenprägenden „christlichen Staat“ gelegt, der z.B. im deutschsprachigen Mitteleuropa bis 1918 andauern sollte.

 

Es dürfte ein Verdienst des Augustinermönchs und Wittenberger Reformators Martin Luther sein, die Unterscheidung der beiden beschriebenen Linien als zwei „Regimente Gottes“ im Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit in seinen großen reformatorischen Schriften, insbesondere in der Obrigkeitsschrift von 1523 begründet und populär gemacht zu haben. Luther entnahm dem biblischen Zeugnis im Anschluss an Augustinus eine weltliche und eine geistliche Weise, mittels derer Gott die menschliche Ordnung verfügt. In der Regel setzt Gott weltliche Regierungen und öffentliche Ordnungen ein, die Konflikte dadurch zuende bringen, dass sie einen Herrschaftsbereich einrichten und dort das von ihnen zu erwartende Recht – für Luther war dies das Naturrecht – mit ebenfalls gesetzlich eingeschränkten Zwangsmitteln zur Geltung bringen. Die andere und seltene Form ist das freie Evangelium, mittels dessen Menschen in ihrem Herzen als Individuen und Gleiche unter Gleichen geistlich bewegt werden, in Konflikten für sich selbst aus lauter souveräner Güte und Barmherzigkeit nachzugeben, lieber Unrecht zu leiden, als Recht einzufordern oder gar Unrecht zu tun, sich das christliche Zeugnis aber nicht verbieten zu lassen.[45]

 

Warum aber soll nicht auch das Wunder geschehen, dass auch weltliche Ordnungsmaßstäbe im Prozess der Zivilisation vom Geist der Güte und Barmherzigkeit erfasst werden?[46] Der Glaube bahnt der Vernunft den Weg. Im Licht der christlichen Ideale gewinnen einige Formen symbolischer und öffentlicher Ordnung einen Vorzug vor anderen. Dann geschieht es, dass Sklaverei und Körperstrafen abgeschafft, Diktatur und Rassismus überwunden werden und in den internationalen Beziehungen ein Gewaltverbot vereinbart wird, ohne damit jedoch messianische Ansprüche zu erheben, geschweige denn zu erfüllen. Wollte sich ein Messianismus realpolitisch durchsetzen, nähme er konfessionalistische, alsbald gar totalitäre Züge an. Mit sich gegenseitig bekriegenden messianischen Ideologien – dem kommunistischen Messianismus der Gerechtigkeit, dem faschistischen Messianismus der penetranten Disziplin und dem kapitalistischen Messianismus des liberalistischen Individualismus – hat die Menschheit vor allem im 20. Jhdt. grausame Erfahrungen gemacht. Andererseits, eine Gesellschaft, in der es nicht immer wieder Menschen gäbe, die die Gebote der Bergpredigt aus freien Stücken und vielleicht sogar ohne sie je gelesen zu haben, beherzigen, wäre eine kalte und dürftige Gesellschaft.

 

Es sollte nach der Konstantinischen Wende weitere eineinhalb Jahrtausende dauern, bis der Mythos des Staates[47] durch eine säkulare Staatsraison abgelöst wurde und selbst dies auch heute erst in nur einem kleinen Teil der Welt. Aber bereits mit der Christianisierung der mythischen Legitimation politischer Macht war eine Aufgabe mitgesetzt, die für das europäische Königtum als Grundfigur der Herrschaftslegitimation[48] schlechterdings konstitutiv wurde: Das antike Christentum hatte sich mit der Überlieferung und Kanonisierung der vier Evangelien auf eine unumkehrbare theologische Entscheidung festgelegt: Diesen Glauben gibt es nicht ohne die Geschichte vom Leben und Leiden Jesu von Nazareth, die wiederum nur zusammen mit der Geschichte Israels vollständig erfasst wird. Der erste Verkünder des Evangeliums war selbst zum Zentrum und Inhalt des Evangeliums geworden[49]. Damit aber war auch die Legitimation von Herrschaft untrennbar an eine programmatische Kritik gebunden, die von den Gedanken der Schöpfung und des Bundes, der Inkarnation, der Passion und des Jüngsten Gerichts bestimmt wurde. Jeder erfolgreiche Herrscher konnte sich sicherlich jederzeit über diese Motive hinwegsetzen oder ihre Programmatik manipulieren. Völlig ignorieren ließen sie sich nicht. Erst mit dem Vollzug der Säkularisierung seit Beginn des 20. Jhdts. stellt sich die „theologische“ Aufgabe erneut explizit: Soll Politik auf ein anspruchs­volles religionsaffines Ethos verpflichtet werden oder nicht, und wenn ja, auf welches? Und können und wollen Religionen und Kirchen aus ihren eigenen Quellen heraus den säkularen Staat mittragen und mit allen Konsequenzen – also auch als Rechtsgarant und Gewaltmonopolisten – aktiv unterstützen und gleichzeitig ihre ureigene Aufgabe als Hüter Heiliger Worte erfüllen?[50]

 

[1]    Vgl. Keel, Othmar (2007): Die Geschichte Jerusalems und die Entstehung des Monotheismus, 2 Bde., Göttingen.

[2]    Vgl. Zimmermann, Martin (2013): Gewalt. Die dunkle Seite der Antike, München, 65–78.

[3]    Vgl. Crüsemann, Frank (2008): Struktur und Systematik des Dekalogs. Eine These, in: Kottsieper, Ingo et al. (2008, Hrsg.): Berührungspunkte. Studien zur Sozial- und Religionsgeschichte Israels und seiner Umwelt. Festschrift für Rainer Albertz zu seinem 65. Geburtstag (AOAT 350), 119-132.; vgl. ders. (20053): Die Tora: Theologie und Sozialgeschichte des alttestamentlichen Gesetzes, Gütersloh.

[4]    Vgl. Manthe, Ulrich (2003, Hrsg.): Rechtskulturen der Antike. Vom Alten Orient bis zum Römischen Reich, München.

[5]    Vgl. Gertz, Jan Christian (20093, Hrsg.): Grundinformation Altes Testament, Göttingen, 230-232 und 247-260.

[6]    Vgl. Augustin, Christian / Wienand, Johannes / Winkler, Christiane (2008): Religiöser Pluralismus und Toleranz in Europa, Heidelberg; Kippenberg, Hans G. / Rüpke, Jörg / von Stuckard, Kocku (2009, Hrsg.): Europäische Religionsgeschichte. Ein mehrfacher Pluralismus, Göttingen.

[7]    Vgl. Oswald, Wolfgang (2009): Staatstheorie im Alten Israel: der politische Diskurs im Pentateuch und in den Geschichtsbüchern des Alten Testaments, Stuttgart.

[8]    Vgl. am Beispiel des Augustinismus: Hausammann, Susanne (2003): Alte Kirche. Bd. 3.: Gottes Dreiheit - des Menschen Freiheit. Trinitätslehre, Anfänge des Mönchtums, Augustin und Augustinismus. Zur Geschichte und Theologie vom 4./5. Jahrhundert, Neukirchen-Vluyn; am Beispiel Luthers: Leonhardt, Rochus / von Scheliha, Arnulf (2016, Hrsg.): Hier stehe ich, ich kann nicht anders!, Zu Martin Luthers Staatsverständnis, Baden-Baden.

[9]    Vgl. Zenger, Erich (20128): Eigenart und Bedeutung der Prophetie Israels, in: Frevel, Christian (2012, Hrsg.), Einleitung in das Alte Testament mit einem Grundriss der Geschichte Israels (Kohlhammer-Studienbücher Theologie 1,1), Stuttgart, 509-520.

[10]   Vgl. Smooha, Sammy (2002): The model of ethnic democarcy: Israel as a Jewish and democratic state, in: Nations and Nationalism 8/2002/4, 475-503; Wittstock, Alfred (2009): Das politische System Israels: Eine Einführung, Wiesbaden; Michel, Gerrit (2010): Israel: Gesellschaft und politisches System im Spiegel des Zionismus, Saarbrücken; Strenger, Carlo (2011): Israel: Einführung in ein schwieriges Land, Frankfurt M.

[11]   Vgl. Mühling, Markus (2007): Grundinformation Eschatologie: Systematische Theologie aus der Perspektive der Hoffnung, Göttingen.

[12]   Vgl. Camus, Albert (1942): L’Étranger, Paris; deutsch: Der Fremde, übersetzt von Uli Aumüller, Sonderausgabe, Reinbek 2010.

[13]   Vgl. Theißen, Gerd (2002, 20033): Die Religion der ersten Christen. Eine Theorie des Urchristentums, Darmstadt.; Stegemann, Wolfgang (2001): Christentum als universalisiertes Judentum? Anfragen an G. Theißens „Theorie des Urchristentums“, in: Kirche und Israel 16/2001, 130-148.

[14]   Vgl. Schnelle, Udo (20055): Einleitung in das Neue Testament. Göttingen; Ebner, Martin / Schreiber, Stefan (2007, Hrsg.): Einleitung in das Neue Testament, Stuttgart; Niebuhr, Karl-Wilhelm (20114, Hrsg.): Grundinformation Neues Testament, Göttingen.

[15]   Vgl. Niebuhr, Karl-Wilhelm (20114, Hrsg.): Grundinformation Neues Testament, Göttingen, 388-404.

[16]   Vgl. Stuhlmacher, Peter (20044): Der Brief an Philemon (Evangelisch-Katholischer Kommentar zum Neuen Testament Bd. 18), Zürich.

[17]   Vgl. Niebuhr, Karl-Wilhelm (20114, Hrsg.): Grundinformation Neues Testament, Göttingen, 428–433.

[18]   Vgl. Wolbert, Werner (2009): Du sollst nicht töten: systematische Überlegungen zum Tötungsverbot, Freiburg.

[19]   Vgl. Luz, Ulrich (2002, 20135,1996, 2002): Das Evangelium nach Matthäus, 4 Bde., Göttingen, 1. Teilband: Mt 1-7.

[20]   Vgl. Taubes, Jacob (1993): Die Politische Theologie des Paulus, München; Assmann, Aleida et al. (1996): Jacob Taubes: "Vom Kult zur Kultur". Bausteine zu einer Kritik der historischen Vernunft. Gesammelte Aufsätze zur Religions-und Geistesgeschichte, München; Wick, Peter (2006): Paulus, Stuttgart; Krauter, Stefan (2009): Studien zu Röm 13,1 - 7 : Paulus und der politische Diskurs der neronischen Zeit, Tübingen; Wolter, Michael (2009): Theologie und Ethos im frühen Christentum: Studien zu Jesus, Paulus und Lukas, Tübingen; Wischmeyer, Oda (20122, Hrsg.): Paulus: Leben - Umwelt - Werk – Briefe, Stuttgart; Biebl, Sabine / Pornschlegel, Clemens (2013, Hrsg.): Paulus-Lektüren (Religiöse Ordnungsmodelle der Moderne Bd: 1), Paderborn; Adloff, Kristlieb (2013): Paulus - Prophet des Gottesreiches, Stuttgart.

[21]   Vgl. Rein, Matthias (2011): Das Johannesevangelium, in: Niebuhr, Karl-Wilhelm (20114, Hrsg.): Grundinformation Neues Testament, Göttingen, § 5.

[22]   Vgl. Mayeur, Jean-Marie et al. (1991-2004, dir.): Histoire du christianisme des origines à nos jours (14 Tomes), Paris; dt. Ausgabe Brox, Norbert et al. (1993-2004): Die Geschichte des Christentums: Religion, Politik, Kultur (14 Bde), Freiburg Br. (Bd. 1 (2003): Die Zeit des Anfangs (bis 250), Bd. 2 (1996): Das Entstehen der Christenheit (250-430), Bd. 3 (2001): Der lateinische Westen und des byzantinische Osten (431-642), Bd. 4 (1994): Bischöfe, Mönche und Kaiser (642-1054), Bd. 5 (1994): Machtfülle des Papsttums (1054-1274), Bd. 6 (1991): Die Zeit der Zerreissproben (1274-1449), Bd. 7 (1995): Von der Reform zu Reformation (1450-1530), Bd. 8 (1992): Die Zeit der Konfessionen (1530-1620/30), Bd. 9 (1998): Das Zeitalter der Vernunft (1620/30-1750), Bd. 10 (2000): Aufklärung, Revolution, Restauration (1750-1840), Bd. 11 (1997): Liberalismus, Industrialisierung, Expansion Europas (1830-1914), Bd. 12 (1992): Erster und Zweiter Weltkrieg - Demokratien und totalitäre Systeme (1914-1958), Bd. 13 (2002): Krisen und Erneuerung (1958-2000), Bd. 14 (2004): Gesamtregister der Bände 1 bis 13).; vor über 20 Jahren aus der Tradition französischer Historiographie begonnen, ist dieses Werk heute eine ökumenische und internationale Gesamtleistung.

[23]   Vgl. a.a.O. Bd. 1, 229-268; Bd. 2, 3-192.

[24]   Vgl. a.a.O., Bd. 1, 863-941.

[25]   Vgl. a.a.O., Bd. 2, 193-416.

[26]   Vgl. a.a.O., Bd. 2, 417ff.; Bd. 3.

[27]   Vgl. a.a.O., Bd. 4; Bd. 6.

[28]   Vgl. a.a.O., Bd. 4, 603-879.

[29]   Vgl. a.a.O., Bd. 5, 3- 32.

[30]   Vgl. a.a.O., 33-135; 555-715; Bd. 5, 567-811.

[31]   Vgl. a.a.O., Bd. 7, 521-611; Bd. 8, 740-958; Bd. 9, 613-822; Bd. 11, 918ff.

[32]   Vgl. a.a.O., Bd. 7, 675ff.; Bd. 8; Bd. 9, 7ff.; Bd. 12, 3-327.

[33]   Vgl. a.a.O., Bd. 9, 968ff.; Bd. 10.

[34]   Vgl. a.a.O. Bd. 11, 7-712.

[35]   Vgl. a.a.O., 713-773.

[36]   Vgl. a.a.O., 829-917.

[37]   Vgl. a.a.O., Bd. 12.

[38]   Vgl. a.a.O., Bd. 13.

[39]   Vgl. a.a.O. Bd. 2, 199-205; Brandt, Hartwin (2007): Konstantin der Große und die Grundlagen des christlichen Europa. Religion und Politik im 4. Jahrhundert, in: Meier, Mischa (2007, Hrsg.), 13-26.; Girardet, Klaus Martin (2010): Der Kaiser und sein Gott. Das Christentum im Denken und in der Religionspolitik Konstantins des Großen, Berlin, New York NY.

[40]   Vgl. Leppin, Hartmut (2007): Theodosius der Große und das christliche Kaisertum, in: Meier, Mischa (2007, Hrsg.), 27-44, 169-181.

[41]   Vgl. Mayeur et al. 1991ff. Bd. 2, 462-551.

[42]   Vgl. a.a.O. Bd. 2, 552-569.

[43]   Vgl. a.a.O., Bd. 3, 794-964.

[44]   Vgl. a.a.O. Bd. 2, 629-767, 863ff.

[45]   Vgl. Duchrow, Ulrich (1970): Christenheit und Weltverantwortung. Traditionsgeschichte und systematische Struktur der Zweireichelehre, Stuttgart.; Gänssler, Hans-Joachim (1983): Evangelium und weltliches Schwert. Hintergrund, Entstehungsgeschichte und Anlass von Luthers Scheidung zweier Reiche oder Regimente, Wiesbaden; Mantey, Volker (2005): Zwei Schwerter, zwei Reiche. Martin Luthers Zwei-Reiche-Lehre vor ihrem spätmittelalterlichen Hintergrund, Tübingen; Anselm, Rainer (2006): Von der theologischen Legitimation des Staates zur kritischen Solidarität mit der Sphäre des Politischen. Die Zwei-Reiche-Lehre als Argumentationsmodell in der politischen Ethik des 20. Jahrhunderts und ihre Bedeutung für die theologisch-ethische Theoriebildung in der Gegenwart, in: Unger, Tim (2006, Hrsg.): Was tun? Lutherische Ethik heute, Hannover, 82-102.

[46]   Vgl. Barth, Karl (1946): Christengemeinde und Bürgergemeinde, Zürich.

[47]   Vgl. Cassirer, Ernst (1946): The Myth of the State, New Haven CT; (deutsch: (1949): Der Mythus des Staates Frankfurt M.

[48]   Vgl. Jussen, Bernhard (2005, Hrsg.): Die Macht des Königs. Herrschaft in Europa vom Frühmittelalter bis in die Neuzeit, München.

[49]   Vgl. Mayeur et al.; 1991ff. Bd. 1, 51f.

[50]   Vgl. für die beiden großen Konfessionen in Deutschland: Kirchenamt der Evangelischen Kirche in Deutschland (1985, 19904): Evangelische Kirche und freiheitliche Demokratie. Der Staat des Grundgesetzes als Angebot und Aufgabe, Gütersloh; Uertz, Rudolf (2005): Vom Gottesrecht zum Menschenrecht. Das katholische Staatsdenken von der Französischen Revolution bis zum II. Vatikanischen Konzil (1789 - 1965), Paderborn.