Hartwig von Schubert

Hamburg im September 2016

www.protestantacademy.eu

 

 

 

Athen, die Idee und die Erfahrung

 

Im Umfeld des östlichen Mittelmeerbeckens treffen nicht nur Afrika, Asien und Europa aufeinander, dort kommt es auch zu wesentlichen Entwicklungsschüben in der menschlichen Zivilisation: die Hominiden verlassen Afrika, hier kommt es zur ersten neolithischen Revolution, zur Erfindung der Schrift, zum Aufstieg des Monotheismus sowie zur Grundlegung der modernen Wissenschaften.

 

In den Küstenregionen des heutigen Griechenlands, Unteritaliens, Siziliens und der heutigen türkischen Westküste gründen „Hellenen“ zwischen dem 8. und 5. Jhdt. v. Chr. ca. 700 eigenständige Stadtstaaten, jeder mit einem „Staatsgebiet“ von 50 bis 100 km², bewohnt von etwa 2.000 bis 4.000 Menschen. In dieser heterogenen und dezentralen Welt entstehen die Grundlagen dessen, was wir heute Wissenschaft nennen. In den griechischen Kolonien tritt das Denken in Mythen zurück und lässt Raum für Begriffe. Besonders eindrücklich zeigt sich dies in der Mathe­matik. Die Tiefe und Reichweite, mit der damals konkrete Erscheinungen in abstrakte Punkte, Linien, Flächen und Körper und diese in Zahlenver­hältnisse übersetzt und diese wiederum zum Zweck exakter Beweisführung in ihren Gesetzmäßigkeiten erforscht wurden, ist in der Antike beispiellos. Jede komplexere Mathematik und mathematisierte Technik ist heute ein Erbe dieser Anfänge. Die Alexandrinische Schule (300 v. Chr. - 600 n. Chr.), die Namen wie Heron, Pythagoras, Euklid und Archimedes verbindet, gilt z.B. als erste Werkstatt für die Entwicklung von Schrauben, Zahnrädern und Hebeln bis zu automatischen Türöffnern, Musik- und Rechenmaschinen wie etwa dem Räderwerk von Antikythera.[1] Es sollte nach dem Untergang Westroms ein gutes Jahrtausend dauern, bis diese Impulse wieder in großem Umfang, erst in der Renaissance Norditaliens, später in der nordwesteuropäischen Aufklärung aufgenommen wurden.

 

Viele Texte und Portraits der für die klassischen antiken Anfänge der Wissenschaft prägenden Persönlichkeiten sind uns überliefert. Unter ihnen nehmen Sokrates, Platon und Aristoteles eine herausragende Stellung ein.

 

 

Platon

 

Der junge athenische Adlige Platon ist bis in seinen engsten Familienkreis hinein von den schweren Turbulenzen betroffen, die der für Athen ruinöse Verlauf des Peloponnesischen Krieges auslöst. Insbesondere der Justizmord an seinem verehrten Lehrer Sokrates erschüttert seinen Glauben und wird für ihn zum Vermächtnis. Mit seinem um den Begriff des Guten ringenden Programm der Paideia (=Erziehung) bindet er die Lehren der „Vorsokratiker“ und die Dialoge zwischen Sokrates und seinen Gesprächspartnern zu seinem eigenen Entwurf einer umfassenden „Ideenlehre“ zusammen. Mit seiner „Akademie“ gründet er einen Lehrbetrieb, der nicht nur ein Jahrtausend lang weitergeführt wird, sondern weitere Schulen wie die seines Schülers Aristoteles inspiriert und nahezu allen Grundfragen wissenschaftlichen Nachdenkens bis heute die Themen stellt. Ein älteres, vergleichbar umfassendes und detailliert ausgearbeitetes Programm ist uns nicht bekannt.

 

Der Textbestand dieses epochalen Werkes ist zwar weitgehend gesichert, um seine Auslegung wird aber bis heute erheblich gestritten.[2] Ein möglicher Schlüssel ist die Einteilung in drei große Werkphasen entlang des zentralen Themas des Aufstiegs: vom Konkreten zum Allgemeinen, von den Erscheinungen zu den Ideen.

 

Das Frühwerk: Praxis des Aufstiegs

Apologie, Kriton: Gelebte Tugenden

Protagoras, Gorgias, Menon, Euthydemos: Reden über die Tugenden

Die Tugend selbst: Eutyphron (Frömmigkeit), Charmides (Besonnenheit), Laches (Tapferkeit), Thrasymachos (Gerechtigkeit), Hippias (Schönheit), Lysis (Liebe), Kratylos (Sprache)

 

Das mittlere Werk: Theorie des Aufstiegs

Politeia: die ideale Stadt

Phaidon: Sokrates’ autobiografischer Weg zur „Natur als Teilhabe an der Idee“

Symposion: über Eros, Liebe, Schönheit und die Wendung zum anderen Menschen

Phaidros: von der Reinkarnation der Seele zum Dialog als Lebensziel

 

Das Spätwerk: Sichtung und Rückstieg

Theaitetos: Erkenntnis, Wahrnehmung, Denken

Parmenides: Denken und Sein

Sophistes: Wissen

Philebos, Politikos, Nomoi: Praxis

Timaios: Natur

 

Im Frühwerk wird verhandelt, was mit hervorhebenden Prädikaten überhaupt sinnvoll gemeint sein kann. Was meinen wir, wenn wir einen Menschen z.B. tapfer, fromm, besonnen, gerecht oder schön nennen? Was ist Gerechtigkeit, was Schönheit, was Liebe? Was leistet überhaupt die Sprache, wenn wir derartige Debatten führen?

 

Es zeichnen sich fünf Stufen eines Aufstiegs ab, hier am Beispiel der Tapferkeit im Laches:

  1. Äußerliches Aufzählen von Beispielen und Fällen aus der Welt der Objekte und Phänomene: „Tapfer ist, wer im Kampf nicht flieht.“ – Stimmt das? Ist es wirklich wahr, dass alle, die im Kampf wie angewurzelt stehen bleiben, tapfer sind? Vielleicht stehen manche nur unter Schock.
  2. Inneres subjektives Begreifen: „Tapferkeit ist Standhaftigkeit und Beharrlichkeit der Seele.“ – Reicht das aber, wenn wir sicherlich nicht nur ein äußerliches Verhalten betrachten, sondern nach den inneren, bewussten Motiven fragen. Denn da sind ja sehr verschiedene denkbar.
  3. Benennen der allgemeinen Prinzipien: „Tapferkeit ist verständige Standhaftigkeit der Seele.“ – Was, wenn jemand Nachteile nur deshalb zeitweise in Kauf nimmt, weil ihm dies langfristig deutlich mehr persönliche Vorteile einbringt? Ist das wirklich Tapferkeit oder nicht einfach nur eine eigennützige Kosten-Nutzen-Kalkulation?
  4. Erfassen der allgemeinen Prinzipien: „Tapferkeit ist verständige Standhaftigkeit der Seele, wenn sie dem allgemeinen Guten dient.“ – Das klingt schon sehr gut. Aber reicht es, wenn sich jemand diese Erkenntnis nur in seltenen lichten Momenten mühsam abringen lässt?
  5. Verwirklichen der allgemeinen Prinzipien: „Sich standhaft und beharrlich, also tapfer, in der umfassenden – hier dialogischen – Praxis der Guten üben.“ – Jetzt erst, wenn jemand sich aus sich selbst heraus beharrlich dazu ermahnt und sich darin übt, dem allgemeinen Guten auch gegen innere und äußere Widerstände zu dienen, ist Tapferkeit im Vollsinne wirklich geworden.

Mit solchen Thesen, Rückfragen und Aufforderungen zur Neuformu­lierung arbeiten sich die Gesprächspartner von Vermutungen über Irrtümer voran bis in die Nähe der Erkenntnis. In der Politeia wird ein ähnlicher Aufstieg an einem anderen Gegenstand erörtert, am Aufstieg einer Stadt:

  1. Die Stadt im Anfangsstadium, die „erste“ Stadt ist schlicht, arbeitsteilig gegliedert und in ihrer Bescheidenheit übersichtlich und friedlich.
  2. In der zweiten, luxuriösen Stadt steigen mit dem Lebensstandard auch die Begehrlichkeiten, sie neigt zum Krieg (wer denkt da nicht an unsere Zeit?!).
  3. In der dritten – sowohl reichen als auch kultivierten – idealen Stadt haben die Gründer eine weise Verfassung eingeführt, die die Bewohner zum Wohle aller in Bürger, Wächter und Philosophenkönige gliedert, sodass jeder an seinem Ort und in seiner Rolle zum harmonischen Ganzen beitragen kann.

Erst im mittleren Werk wird der Ertrag des Frühwerks theoretisch gesichert. Was Tugend ist, bewährt sich zwar zum einen in der Polis:

  1. Weisheit ist Einsicht in das Ganze (vgl. Pol 428d).
  2. Tapferkeit ist das Vermögen, die richtige Einschätzung dessen, was zu fürchten ist und was nicht, gegen Widerstände durchzuhalten (vgl. Pol 429b,c).
  3. Besonnenheit ist das Einverständnis aller, dass die Vernünftigen herrschen und die übrigen ihnen folgen (vgl- Pol 432a,b).
  4. Gerechtigkeit ist das Tun des Seinen: jeder nach seinen Bedürfnissen, jeder nach seinen Möglichkeiten (vgl. Pol 433a).

Um aber in der Polis verwirklicht zu werden, muss die Tugend zuvor in der harmonisch geordneten individuellen menschlichen Seele ausgebildet werden, auch sie ist gegliedertes Ganzes:

  1. Der Trieb erfüllt das Bedürfnis des Individuums.
  2. Der Wille führt den Trieb gemäß der Vernunft.
  3. Die Vernunft setzt dem Willen die Zwecke.

Die harmonisch geordnete Stadt ist also Abbild der harmonisch geordneten Seele! Und die Seele erfasst und verwirklicht ihre Zwecke gemäß den Ideen der Vernunft. Vermutlich wird man Platon nicht gerecht, wenn man ihn auf sein eugenisches und in Teilen totalitär anmutendes Verfassungsmodell festlegt. Hat er doch mit dem Philosophenkönigsatz die bis heute anhaltende Debatte um „Good Governance“ aus den Palästen geholt und der Öffentlichkeit zugänglich gemacht! Als Leser der Politeia kann der Bürger doch durchschauen, dass jener eugenische Mythos eine List ist und sein Augenmerk von diesem oder jenem mehr oder weniger Vollkommenen auf die Vollkommenheit selbst richten. Wird die Treue zum Ganzen bei den Bürgern der idealen Stadt durch die List des Mythos erschlichen, so wird sie beim Schüler der Ideenlehre durch die Schönheit der Idee des Guten begründet. Wer nicht durch die Ideen selbst zur Einsicht kommt, der kann ja nur durch eine sinnliche Konstruktion – also in jedem Fall eine grobe oder feine List – dazu bewegt werden, sich der Einsicht gemäß zu verhalten. Sofern Ideen immer nur im Gewand eines sinnlich gebildeten Urteils erscheinen, wäre die List für diejenigen keine List mehr, die dies eingesehen haben. Die Freude an der dichterischen Schönheit der platonischen Dialoge wäre dann jener erste Schritt, der am Ende auch in die politische Freiheit führte? Friedrich Schiller schreibt zu Beginn des 2. Briefs seiner ästhetischen Erziehung des Menschengeschlechts: „Ist es nicht wenigstens außer der Zeit, sich nach einem Gesetzbuch für die ästhetische Welt umzusehen, da die Angelegenheiten der moralischen ein so viel näheres Interesse darbieten und der philosophische Untersuchungsgeist durch die Zeitumstände so nachdrücklich aufgefordert wird, sich mit dem vollkommensten aller Kunstwerke, mit dem Bau einer wahren politischen Freiheit zu beschäftigen?“[3] Was er andeutet, führt er in den drei letzten Briefen aus: Politik ist Kunst im vollen ästhetischen Sinne, oder sie ist nicht Politik. Das ist genuin platonisches Erbe.

 

Im Spätwerk kann nun mit Hilfe der Ideenlehre gezeigt werden, was Theorie für die Praxis austrägt: Es gibt nichts Praktischeres als eine gute Theorie. Was also besagt und was leistet die Ideenlehre als Theorie der Theorie? Auch hier hilft wieder ein Dreischritt:

  1. Wer denkt und spricht, denkt und spricht etwas Bestimmtes.
  2. Angesichts vieler Meinungen und Konventionen und der Vielfalt und des Wandels von Bedeutungsmöglichkeiten muss alles, was zur Sprache kommt, immer wieder als das bestimmt werden, was es ist.
  3. Das bleibend Gemeinsame im Wandel ist die Idee, zu der das Denken aus den Erscheinungen heraus aufsteigt, z.B. von den unendlich vielen Handlungen zur endlichen Zahl von Qualitäten und Tugenden (Theorie), von dort zu der einen Idee des Guten (Theorie der Theorie).

Der Idee des Guten nähert sich Platon anhand von drei Gleichnissen:

  1. Sonnengleichnis: So wie das Auge die Erwartung von Sonnenlicht, so ist die menschliche Vernunft die Erwartung des Guten. Die Idee des Guten schafft und steigert sowohl Erkenntnis als auch das Sein.
  2. Liniengleichnis: Für die ersten drei Stufen des Aufstiegs reicht der Verstand. Erst die Vernunft blickt von der vierten und fünften Stufe zurück und erfasst und verwirklicht gemäß der Idee.
  3. Höhlengleichnis: Aus dem Halbdunkel der Meinungen und Konventionen muss der Mensch behutsam und als Ganzer emporsteigen. Wer Andere dazu anleiten will, muss mit tödlichem Widerstand rechnen.

Platon „flüchtet“ keineswegs in die Ideen, im Gegenteil kennt er die Risiken. Der Aufstieg dient dem besseren Ein- und Überblick, und der bewährt sich, wenn es darum geht, wieder „herab“ zu steigen, um die Mühen der Ebene zu meistern. Bei Aristoteles, seinem berühmtesten Schüler, wird die philosophische Existenz den Namen bios theoretikos tragen. Was meinen wir denn, wenn wir das Prädikat „gut“ vergeben, vom niedersten Werkzeug, das wir „gut“ nennen, bis zum edelsten Menschen, den wir „gut“ nennen? Auf diese Frage laufen alle Dialoge hinaus. Platon will erkunden, was Sinn und Zweck des infrage stehenden Gesprächsgegenstandes ist und zwar jenseits der Konventionen. Gut ist das, was das leistet, was es leisten kann, was zu dem taugt, was in ihm steckt und wozu es sich selbst anbietet, als was es sich selbst zeigt und erweist, indem es zu seiner Blüte gelangt. Woran soll sich der Mensch halten, wenn nicht an die natürliche und überkommene, von den Göttern gestiftete Ordnung der Dinge?

 

Sokrates behauptet: „Es ist besser, Unrecht zu leiden als Unrecht zu tun.“ (Gorgias, 474b). Gleich eine ganze Gruppe von Gewaltapologeten läuft gegen diese Zumutung Sturm. Der doch längst als moralisch indifferent durchschaute Naturzustand legitimiere vielmehr – wir würden heute sagen „intuitions- und realitätsnah“ – das Recht des Stärkeren und die politische Willkür. Um gegen diese Auffassung Gesetzestreue als legitimen Ausdruck naturgemäßer und gottesfürchtiger Lebenshaltung und keineswegs als List der Herrschenden und Konvention für die Beherrschten darstellen zu können, verteidigt Platon sein Bild von der Natur in seiner Bedeutung für menschliches Handeln und Denken. Die Natur sei als dynamisch geordneter Kosmos darzustellen, wenn auch nicht mehr unmittelbar mythisch wie bei Homer, so doch mit Hilfe der Ideenlehre. Das Urbild für die zur Aufgabe gemachte Einheit der nach „unten“ gerichteten Natur der Sinne und der nach „oben“ gerichteten Natur des Denkens ist die menschliche Seele. Sie ist sowohl der Sinneswahrnehmung als der Schau der Ideen mächtig und deshalb Natur schlechthin. Die erste ausgeführte „Seelenlehre“[4] der Philosophiege­schichte in Platons Politeia gehört in den Zusammenhang einer Suche nach der Gerechtigkeit in Kósmos und Pólis. Es liegt für Platon im Wesen der gesamten Natur, dass beides im Ganzen und in allen seinen Teilen nur in Harmonie, Proportion und Ordnung überhaupt bestehen könnten, andernfalls gingen sie zugrunde.

 

Um eine Sache im möglichst weiten Horizont ihrer Erscheinungsweisen als sie selbst zu erfassen, um ihr in all ihren Aspekten möglichst gerecht zu werden, muss man zu allererst sich selbst als lernfähig erweisen und darum ringen, von sich selbst abzusehen: „Das größte von allen Übeln aber ist den meisten Menschen in der Seele eingeboren, das was jedermann sich selbst verzeiht und daher nicht auf Mittel sinnt, ihm zu entrinnen. Es ist das, was man mit der Behauptung meint, dass jeder Mensch von Natur sich selbst lieb und wert ist und dass es in der Ordnung ist, dass er so sein muss. In Wahrheit aber wird dies für jeden jederzeit zur Ursache aller Fehltritte wegen der übergroßen Selbstliebe. Denn der Liebende wird blind für das, was er liebt, so dass er das Gerechte, das Gute und das Schöne falsch beurteilt, weil er das Seine stets höher als das Wahre schätzen zu müssen meint; denn nicht sich selbst noch das Seine muss derjenige lieben, der ein großer Mann werden will, sondern das Gerechte, mag es nun bei ihm selbst oder bei einem anderen mehr geübt werden. Von eben diesem Fehler rührt auch der her, dass die eigene Unwissenheit allen als Weisheit erscheint; die Folge ist, dass wir, während wir, genau gesagt, gar nichts wissen, dennoch alles zu wissen glauben, und weil wir nicht anderen das, was wir nicht verstehen, auszuführen überlassen, begehen wir unvermeidlich Fehler, wenn wir es selbst ausführen. Darum muss jeder Mensch die allzu große Selbstliebe meiden und stets demjenigen nachstreben, der besser ist als er, ohne irgendeine Scham hierbei vorzuschützen.“ (Nomoi V, 731 d ff.)

 

 

Aristoteles

 

Aristoteles, 384 v. Chr. als Sohn eines Arztes in der Stadt Stageira auf der Halbinsel Chalkidike geboren, trat mit 17 Jahren in die Akademie ein, blieb dort 20 Jahre anfangs als Schüler, später als Lehrer und entwickelte sein Werk in genialer Auseinandersetzung mit der gesamten, ihm vorliegenden Tradition, insbesondere mit Platon.[5] Wesentliche theoretische Grundlagen seiner Philosophie wurden in der Akademie Platons gelegt, mit seiner eigenen Schule aber wählte er einen von Platon abweichenden Weg. Der Lehrer misstraute den Phänomenen, der Schüler studierte sie. Er löste die Wissenschaft von der Philosophie und begründete die Emanzipation autonomer Einzelwissenschaften, er gab ihnen ihre bis heute gültigen Namen: Physis-Physik, Musen-Musik, Ethos-Ethik, Polis-Politik, er trieb das Programm der induktiven Forschung erheblich voran, allerdings noch nicht bis zur modernen Versuchsanordnung.

 

Hier als Beispiel die ersten Zeilen der Nikomachischen Ethik: „Jede Kunst und jede Lehre, desgleichen jede Handlung und jeder Entschluss, scheint ein Gut zu erstreben, weshalb man das Gute treffend als dasjenige bezeichnet hat, wonach alles strebt. Doch zeigt sich ein Unterschied der Ziele. Die einen sind Tätigkeiten, die anderen noch gewisse Werke oder Dinge außer ihnen. Wo bestimmte Ziele außer den Handlungen bestehen, da sind die Dinge ihrer Natur noch besser als die Tätigkeiten. Da der Handlungen, Künste und Wissenschaften viele sind, ergeben sich auch viele Ziele. Das Ziel der Heilkunst ist die Gesundheit, das der Schiffsbaukunst das Schiff, das der Strategik der Sieg, das der Wirtschaftskunst der Reichtum. Wo solche Verrichtungen unter einem Vermögen stehen, wie z. B. die Sattlerkunst und die sonstigen mit der Herstellung des Pferdezeuges beschäftigten Gewerbe unter der Reitkunst, und diese wieder nebst aller auf das Kriegswesen gerichteten Tätigkeit unter der Strategik, und ebenso andere unter anderen, da sind jedes Mal die Ziele der architektonischen, d. h. der leitenden Verrichtungen vorzüglicher als die Ziele der untergeordneten, da letztere nur um der ersteren willen verfolgt werden. .... Wenn es nun ein Ziel des Handelns gibt, das wir seiner selbst wegen wollen, und das andere nur um seinetwillen, und wenn wir nicht alles wegen eines anderen uns zum Zwecke setzen – denn da ginge die Sache ins unendliche fort, und das menschliche Begehren wäre leer und eitel –, so muss ein solches Ziel offenbar das Gute und das Beste sein. Sollte seine Erkenntnis nicht auch für das Leben eine große Bedeutung haben und uns helfen, gleich den Schützen, die ein festes Ziel haben, das Rechte besser zu treffen? So gilt es denn, es wenigstens im Umriss darzustellen, und zu ermitteln, was es ist und zu welcher Wissenschaft oder zu welchem Vermögen es gehört.“ (NE I,1, 1094 a I)

 

In der nach seinem Sohn benannten „Nikomachischen Ethik“ fordert Aristoteles nicht den vollkommenen Menschen und gibt keine Anleitung zur vollendeten Lebensführung in der harmonischen Stadt. Vielmehr macht er den Weg frei für eine induktive Analyse menschlichen Verhaltens im Alltagsleben und für eine phänomenologische Bestandsaufnahme ethischer Aufgabenstellungen. Jeder hat etwas, das ihn antreibt und ihm als sein „Glück“ erscheint. Um sich dessen bewusst zu werden, muss er nur – Platon folgend – weiterfragen von seinen Handlungen zu deren Zwecken, von seinen „Tätigkeiten“ (poiesis) zu dem eigentlichen „Werk“ (praxis), das ihm vorschwebt. Im Wettstreit individueller Lebensentwürfe freier, erwachsener, männlicher Griechen – Kinder, Frauen, Sklaven und Barbaren zählen nicht – gewinnt nach Überzeugung des Aristoteles sein eigener, der bios theôretikos.

 

Eine verbreitete Lebensform sucht die hêdonê, den Genuss und die Freude. Ihre Anhänger unterwerfen sich im reinen Genussleben ihren wechselnden Leidenschaften und Stimmungen und versäumen so, ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen. Eine verwandte Form ist eine rein auf wirtschaftlichen Gewinn gerichtete Existenz. Wird materieller Besitz zum Selbstzweck, dann geht das Sammeln und Horten ins Unendliche, ein solches Krämerleben (chrêmatistês bios) taugt noch weniger zum Glück als das reine Genussleben. Analoges gilt dann auch für einen politischen Aktivismus, der nur auf Ruhm und Ehre aus ist. Diese Lebenshaltungen halten ihre Anhänger in Abhängigkeit von äußeren Lebensumständen! Denn Respekt und Ehrerbietung können mir meine Mitbürger verweigern, den Genuss kann mir das Schicksal nur allzu leicht vergällen. Der Hedonismus scheidet deshalb bei Aristoteles im Wettstreit der Lebensformen früh aus.

 

Das Ziel der bürgerlich-politischen Lebensform ist aretê. Sie bedeutet so viel wie Tauglichkeit oder Tugend, sie ist das Prinzip des tüchtigen Bürgers, der seine Erfüllung darin findet, seinen Hausstand in Ordnung zu halten und nicht wie der Tyrann nur in die eigene Tasche zu wirtschaften. Er will dem Wohl der Allgemeinheit dienen, in der Jugend mit Tapferkeit, im Alter mit besonnenem Rat. Hierbei erweisen sich Reichtum und Ehre in der Regel als hilfreich und werden zudem durchaus als lustvoll erfahren. Aristoteles bemüht jedoch nicht wie sein Lehrer Platon die hohen Ideale der Gerechtigkeit und Tapferkeit, ihm reicht vielmehr aus, an die üblichen Maßstäbe gegenseitiger Anerkennung zu erinnern, die sich ganz von selbst ausbildeten, wenn der Einzelne sich nur vernünftig in die Gemeinschaft einfüge. Am besten vermeide er dazu jegliches extreme Verhalten und suche jeweils situationsgerecht den für ihn goldenen Mittelweg zwischen den Extremen. Dies ist keineswegs als Opportunismus zu denken, sondern als Kunst des rechten Maßes.

 

Die theôria, das Schauen und Betrachten der Dinge, die „Wissenschaft“ als Kunst „Theorien“ aufzustellen, jener Inbegriff einer philosophischen Lebensweise, die allein ein Optimum an Selbstbestimmung (Autarkie) verheißt, weil man sie auch in widrigen Lebensumständen aus sich selbst heraus entfalten kann, trägt schließlich bei Aristoteles den Sieg über die anderen Lebensformen davon. Denn in ihr kommt die spezifische Seinsform des Menschen als Vernunftwesen zur Erfüllung. Das betrachtende Leben schafft bereits in sich lustvolle Befriedigung, hilft darüber hinaus unliebsame Folgen zu erkennen und zu vermeiden, Unabänderliches zu ertragen und trägt in der Regel sogar Anerkennung ein, umfasst also auch die Leistungen der beiden anderen Haltungen. Der Hedonist ist ständig auf Versorgung von außen angewiesen, der Anhänger der politischen Lebensform braucht dagegen nur einige der Bestandteile des vollendeten Glücks wie Wissen, die Treue guter Freunde und die Macht und Ehre, die durch die Mitbürger verliehen werden. Dem Freund der Weisheit und des betrachtenden Lebens reichen sogar wenige Glücksgüter, das Wissen allein nämlich und die zur Pflege der Wissenschaft nötigen Minimalvoraussetzungen. In dem Maße, in dem ein Mensch sich den unveränderlichen Gegenständen und reinen Gesetzen der geistigen Anschauung widmen kann, führt er gar ein Leben in der Sphäre der Götter. Theôria bezeichnet ursprünglich den Besuch einer kultischen Feier, bei Aristoteles ist dieser Sinn im Gegenstand der Theorie, dem Ewigen, noch sichtbar. Die christlich-lateinische Tradition der Spätantike führt die Doppelstruktur der politischen und der betrachtenden Lebenshaltung mit der Gegenüberstellung von „Maria und Martha“ (Luk 10, 38-42), vita contemplativa und vita activa oder ora et labora fort. Bei Aristoteles erhält die theôria – wie übrigens auch in der zitierten Evangelienstelle – den Siegeskranz, auch wenn sie nur wenigen gelingen dürfte.

 

Wir sind heute gewohnt, das Lernen als Vorbereitung auf den späteren Beruf zu verstehen. Bei Aristoteles jedoch dient das Lernen nicht einem Zweck. Die Bestimmung des Menschen besteht nicht darin, zu leben, um zu arbeiten, sondern zu arbeiten, um zu leben, und zwar in einer nicht mehr von weiteren Zwecken bestimmten, sondern alle Zwecke in sich erfüllenden Freiheit. Er entdeckt die Welt nicht, um sie zu beherrschen, sondern aus Lust am Entdecken. Die aristotelische Ethik ist mit diesem Anspruch nicht kultur- und zeitabhängig, sondern universal. Begründet ist dies dadurch, dass sie ihren Ausgangspunkt, wenn auch in kritischer Abgrenzung, bei der platonischen Lehre von den universalen Ideen nimmt, dass sie ferner der Handlungstheorie mit dem Begriff des Glücks einen universalen Zielpunkt gibt und der Ethik schließlich eine universale Anthropologie unterlegt, das Bild nämlich vom Menschen als Träger der einen Vernunft.

 

Mit der positiven Würdigung des moralisch-praktischen Charakters der politischen Lebensform sowie mit einem doppelten Verständnis von Vernunft vermeidet Aristoteles eine zu einseitige Intellektualisierung der Ethik. Die Vernunft als „wesentliche“ lebt im wissenschaftlich-philoso­phischen Forschen, die Vernunft als „gehorchende“ bewährt sich in den Charaktertugenden der Tapferkeit, der Besonnenheit, der Freigebigkeit und der Bereitschaft, geistig weitblickend Verantwortung zu über­nehmen. Jede dieser Tugenden prägt sich individuell als eine Mitte oder Balance zwischen einem Zuviel und einem Zuwenig aus, in ihr sind die beteiligten Affekte ausgewogen aufeinander abgestimmt und sie bilden sich in stetigem Üben am Leitfaden gelebter Vorbilder. Die abendländische Tradition wird die bei Platon begegnenden so genannten vier Kardinaltugenden – Besonnenheit, Tapferkeit, Weisheit und Gerechtigkeit – lehren, nach einem Schema also, das Aristoteles nicht vertritt.

 

Die Tugend der Gerechtigkeit behandelt er ausführlich im fünften Buch der Nikomachischen Ethik und unterscheidet „gerecht“ als eine subjek­tive Einstellung von Personen von „gerecht“ als Prädikat von objektiven Verhältnissen und Institutionen. Sie bildet die Brücke von der Individual­ethik zur politischen Ethik. Den Vorrang hat die innere Haltung, wodurch eine bloße äußerlich angepasste Befolgung von Regeln abgewiesen wird. Gerechtigkeit als Mittelweg jenseits von Unrechttun und Unrechtleiden wird im späteren philosophischen Schulbetrieb sogar zum Inbegriff von Tugend schlechthin. Die äußerliche, in Gesetzen niedergelegte Gerechtigkeit erfasst die Werke, nicht die innere Haltung, und dies im Wesentlichen im Modus des Verbots. In einer weiteren Bedeutung betrifft der Begriff Gerechtigkeit den Umgang mit sozialen Gütern wie Ämter und Würden, Vermögen und Einkommen, Gesundheit und Sicherheit. Neben die Verteilungsgerechtigkeit tritt dabei die konsistente Einhaltung von Regeln, dies wiederum in einem bis heute prägenden zweifachen Sinn, als freiwillig im Sinne des Zivilrechts und als unfreiwillig im Sinne des Strafrechts. Wie weit erstreckt sich räumlich und zeitlich der Geltungs­bereich der Gesetze? Von Aristoteles stammt die bis heute prägende Unterscheidung von natürlichem Recht oder Naturrecht von gesetztem oder nach heutigem Sprachgebrauch positivem Recht. Als natürliches Recht denkt er sich allerdings keineswegs einen ewigen Bestand von natürlichen – jüdisch-christlich interpretiert: von Gott der Schöpfung eingeschriebenen – Rechten, sondern ein durchaus veränderliches, gleichwohl aber gesellschaftskritisches Ideal, das den zeit- und kultur­bedingten positiven Rechtsordnungen eine universal geltende Gemein­wohlorientierung zum Vorbild macht. Natur (physis) ist nach dem Vorbild biologischer Prozesse ein dynamisches Feld mit einer Entwicklungs­neigung, deshalb kann sie der Ethik einen normativen Rahmen stellen.[6] Schließlich sei noch das Begriffspaar „recht und billig“ genannt: Derjenige billigt ein Urteil, der zur Entschärfung eines Konflikts freiwillig auf die Durchsetzung eines geltenden Rechtsanspruches verzichtet. Die Billigkeit korrigiert die Anwendung einer durchaus weiterhin gültigen Regel, um die Besonderheiten eines Einzelfalls zu würdigen.

 

Es ist schon bemerkenswert, dass die damals gerade 250 Jahre alte Tradition der „Wissenschaft“ von Aristoteles – auch für seine Zeitge­nossen alles andere als selbstverständlich – überhaupt als dritter und dann noch auf dem Weg zum Glück erfolgreichster Grundtyp einer gewohnheitsmäßigen Lebensführung benannt werden konnte. Dass er selbst sich diesem Typ zurechnete, wird dadurch eindrucksvoll unterstrichen, dass er als erster die Wissenschaft systematisch in große Gebiete einteilte: die Grundlagenwissenschaften der Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie, die Physik als Lehre von der veränderlichen Welt und die Lehre von den menschlichen Angelegenheiten, die die Politik, die Ökonomie und die generelle Lebensführung, eben die Ethik, umfasst. Obwohl er fast alle Forschungsthemen seiner Zeit behandelt, gerinnen ihm die Ergebnisse nicht zu einem dogmatischen System, weil er jedem Gegenstandsbereich die ihm eigene Form von Rationalität zuweist. Da sich die Wissenschaften von den menschlichen Angelegenheiten auf weite Strecken diesseits des Bereichs streng notwendiger und deshalb beweisbarer Sätze erstrecken, entwickelt er mit der Dialektik und Rhetorik Diskursformen lebensweltlicher Rationalität, in der aber nicht nur beliebige Meinungen herrschen. Vielmehr ist der gute Dialektiker in der Weise ethisch orientiert, dass er im geordneten Durchgang durch die bisher anerkannten Ansichten das Falsche meidet und das Wahre sucht. Was aber ist wahr? Dies zu klären, wird seit Aristoteles „Metaphysik“ genannt.

 

Wie viel Metaphysik steckt in der Aristotelischen Ethik? Menschen finden in bestimmten Tätigkeiten als für sie angemessenen „Werken“ ihre Erfüllung und Befriedigung. In dieser Erfahrung sieht Aristoteles die Bestätigung dafür, mit Recht nicht nur ein „Gutes“ annehmen zu können, wonach ein vernünftiges Individuum strebt, sondern darüber hinaus ein höchstes Ziel, wonach alles strebt. Alles in allem ist dies eine durchaus vorsichtige und tastende Folgerung, keine starke, sondern eine milde „Metaphysik“, die er andernorts in einer philosophischen Gotteslehre ausbaut. Er empfiehlt zunächst nur, sich dessen kritisch zu vergewissern, was einem als Werk, wenn nicht gar als Lebenswerk bedeutsam erscheint. Wer nicht kurzsichtig oder gar blindlings nur der jeweils nächsten Attraktion, wer ebenso wenig stets nur den Anweisungen anderer folgt, hat seinen Horizont bereits geöffnet, vergleicht Alternativen, wählt aus dem Guten das Bessere und setzt auf eines, das ihm als das Beste erscheint. Kurz: er ist einer jener freien männlichen erwachsenen Griechen, zu denen Aristoteles sich selbst zählt und denen er seine Ethik widmet. Man kann es auch umdrehen: spätestens in der konkreten Existenz, im gelebten Lebensentwurf, entscheidet sich das existenzielle Gut, das man gewinnen oder verlieren kann.

 

Diese erste Ethik unserer Geistesgeschichte verliert sich nicht in Gebots- und Tugendkatalogen, Falldiskussionen und Einzelgeboten, sondern leitet an zu einer souveränen Selbstvergewisserung über die zu wählenden Prinzipien erfüllten Lebens. Darin folgt er seinen beiden großen Vorgängern Sokrates und Platon. Aber was leistet am Ende die Wahl eines Prinzips im konkreten Leben? Die Pragmatik der aristotelischen Ethik bewährt sich darin, dass durch den Vergleich zwischen Poiesis und Praxis, also den Tätigkeiten und dem durch sie angestrebtem Werk stets der Nutzen entscheidet, in welchem Maße ein Werk als ausgereift gelten kann. Eine bestimmte Art von Nutzen – z.B. materieller vor immateriellem – erscheint mir wünschenswert? Dann habe ich damit vermutlich eher das Prinzip der hedoné als das der areté gewählt, es sei denn, ich habe den Nutzen auch der Anderen im Auge. Prinzip und Nutzen bedingen einander wechselseitig.

 

Bei Aristoteles mündet diese individuelle Ethik in eine politische Ethik, die nach der besten Form des Gemeinwesens sucht. Entsprechend verweist er am Schluss der Nikomachischen Ethik auf die mit großer Sicherheit bereits vor der „Ethik“ verfasste „Politik“: „Als erstes werden wir untersuchen, was etwa die Früheren im Einzelnen da und dort Richtiges gesagt haben, dann mit Hilfe der gesammelten Staatsverfassungen prüfen, was die Staaten und die einzelnen Staatsverfassungen bewahrt und zerstört, und aus welchen Gründen die einen Verfassungen gut, die andern schlecht sind. Wenn das untersucht ist, werden wir wohl eher erkennen können, welche Verfassung die beste ist und wie jede einzelne geordnet werden und welche Gesetze und Gewohnheiten sie befolgen soll.“ (X 10, 1181 b 8) Aristoteles legt die erste vollständige Rechts- und Staatstheorie vor, die den gesamten Bogen von den theoretischen Grundlagen über die empirische Forschung bis zur Bewertung spannt und in ihrer meisterhaften Durchführung bis heute wirksam ist.

 

Wie in der „Ethik“ so steht auch in der „Politik“ eine optimistische anthropologische Bestimmung im Zentrum: Der Mensch ist von Natur aus ein politisches Wesen (physei politikon zoon; I 1, 1253 a 3), denn er verwirklicht seine spezifische Seinsweise als vernunftbegabtes Wesen erst in vollem Maße in einer die Einzelnen und ihre Hausgemeinschaften organisierenden Stadt. Anders als andere „politische Tiere“, wie Bienen und Ameisen, geht es ihm dabei nicht nur um das Leben überhaupt, sondern um das „gute“ Leben. Die Polis ist eine Gemeinschaft von gleichberechtigten Freien, neben denen es einige wenige gibt, die außerhalb der Polis als Gemeinschaftsunfähige leben oder als solche, die sie nicht brauchen. Die Polis entsteht nun keineswegs von allein, sondern hat einen Gründer, der wie Solon den Athenern eine Verfassung entwirft, dessen Initiative allerdings auf das allgemeinmenschliche Bedürfnis nach Geselligkeit antwortet, das sich aus der wechselseitigen Angewiesenheit von Mann und Frau, Herr und Knecht, Eltern und Kindern ergibt. Jeder zieht Vorteile aus der Gemeinschaft. Kinder gründen später selbst Familien, die einzelnen Häuser (oikos) sammeln sich zu Dörfern (kômê) und Sippen, diese wiederum versammeln sich in der Polis, die nicht mehr allein durch Abstammung, sondern vom gemeinsamen Interesse am guten Leben zusammengehalten wird. Jenseits der rein ökonomisch ausgerichteten Unterscheidung von nützlich und schädlich erreicht der menschliche Logos eine politische Form erst mit der Unterscheidung von recht und unrecht. Anders als sein Lehrer Platon entwirft Aristoteles seine Polis aber entschieden nicht nach dem Vorbild der Familie. Und entgegen einer verbreiteten Meinung vollzieht sich die Entwicklung der Polis bei Aristoteles keineswegs konflikt- und herrschaftsfrei. Selbstverständlich kennt Aristoteles Gesetze und Institutionen, die mit Gewaltmitteln ausgestattet sind, um diese durchzusetzen. Das vierte Kapitel der „Politik“ (IV, 14) kennt sogar die Teilung in die drei öffentlichen Gewalten der Beratung, Entscheidung und Rechtsprechung. Und Aristoteles kennt das Verbrechen und den Krieg. Jene gemeinschaftsunfähigen Menschen, die außerhalb der Polis leben, sind „wilde Tiere“ und „gierig nach Krieg“; das Unrecht wird auf die Spitze getrieben, wenn es bewaffnet erscheint (I 2, 1253 a 6, a 29, a 33). Es gehört zum Wesen des Politischen, dass es Gefahren abwehrt und zugleich gefährdet, also selbst gefährlich ist. Mächtiger als die hart reagierende Hand des Gesetzes können deshalb die vielen Bindungen, die Aristoteles unter dem Namen der Freundschaft zusammenfasst, dem Krieg aller gegen alle entgegenwirken. Insofern haben die öffentlichen Gewalten bei Aristoteles deutlich stärker eine ordnende als eine herrschende Rolle, die Idee einer über die einzelne Polis hinausgehende „internationale“ Rechtsordnung taucht bei ihm noch nicht auf. Er konnte sich das Verhältnis zwischen den Staaten offensichtlich nur als eine Frucht gegenseitiger Abschreckung und des Krieges vorstellen. Mit dem inneren Frieden aber stehen Sein oder Nichtsein der Polis auf dem Spiel.

 

Die Polis ist vernünftig, weil jeder Mensch als Mitglied einer politischen Organisation bessergestellt ist als ohne sie. Politisch organisieren heißt nach Maßgabe des Rechtes regieren. In der Polis leben Freie mit Freien zusammen, es herrschen also Freie über Freie, die idealerweise selbstbestimmt leben, wirtschaftlich unabhängig sind und sich selbst die Gesetze geben. Aristoteles denkt hierbei ausschließlich an den freien, männlichen, erwachsenen Griechen. Sklaven, Frauen, Barbaren und Kinder sind, weil jeweils als solche geboren, von Natur aus ausge­schlossen. Herren pflegen vorzugsweise das betrachtende und politische Leben und denken und planen dank ihrer intellektuellen Überlegenheit für ihre Sklaven mit. Als die geistig Schwächeren gehorchen ihnen sowohl Frauen und Sklaven ebenso wie die Kinder zu ihrem Besten und revanchieren sich, indem sie dank ihrer entsprechenden körperlichen Eignung den griechischen Herren zur Verfügung stehen. Für die Völker der Barbaren ist es insgesamt besser, von den überlegenen Griechen regiert zu werden. Der ideologische Charakter dieser willkürlichen Zuschreibungen ist mit Händen zu greifen, zumal es Aristoteles’ ansonsten unvoreingenommen empirischem Denken widerspricht, von der damaligen Wirklichkeit widerlegt und auch von einigen Zeitgenossen nicht geteilt wird. Als Beispiel für ein naturrechtliches Argument diskreditiert es für uns das gesamte Naturrechtsdenken. Wir wissen allerdings heute, dass sowohl die Sklaverei als auch die politische Unterdrückung der Frauen fast unausweichlich zusammen mit dem Entstehen von Hochkulturen auftreten, und wir müssen zugeben, dass beide Übel bis weit in die Neuzeit hineinreichen. Für eine menschenrechtliche Grundlegung der Ethik und der Politik bedurfte es des starken Einflusses anderer Kulturen als der griechischen Klassik.

 

Welche Form der Herrschaft ist zu bevorzugen? Aristoteles geht konsequent induktiv vor und untersucht eine von ihm und seinen Mitarbeitern erstellte Sammlung von 158 griechischen Verfassungen auf ihre Stärken und Schwächen.[7] Sein Ergebnis lautet: Herrschaft darf die Freien nicht Ihrer Freiheit berauben, sie ist Herrschaft des Gesetzes und nicht eines Menschen oder einer Gruppe, und wären dies auch die platonischen Philosophenkönige, und sie gliedert sich in drei voneinander unabhängige Herrschaftsweisen: das Beraten der Gesetze, das Ausführen der Gesetze und die Recht­sprechung. Alle Herrschaft, die nur dem Herrscher selbst und nicht dem Gemeinwohl dient, keinerlei Rechenschaft unterliegt und nicht einmal von dem Besten ausgeübt wird, ist illegitime Tyrannei. Das Gemeinwohl ist das entscheidende Kriterium, es bleibt bei Aristoteles jedoch eher unscharf. Auf jeden Fall umfasst es die militärische Sicherheit, Fragen des Handels und der Wirtschaft sowie der Bodenverteilung als Mischung aus Privat- und Gemeineigentum. Letzteres liefert die Basis für Ansätze einer Wohlfahrtspflege, z.B. gemeinsame Mahlzeiten für jeden Bürger. Grundsätzlich sollen besser viele als wenige Menschen an der Herrschaft beteiligt werden, alle haben an den Führungsämtern Anteil und regieren abwechselnd. Unter den gemeinwohlorientierten Herrschaftsformen siegen also die republikanischen über monarchische und aristokratische Verfassungen.

 

Der Begriff Demokratie ist bei Aristoteles stark belastet durch die Vorstellung einer willkürlichen, gesetzlich ungeregelten Tyrannei der jeweiligen Mehrheit. Gesetze aber sind nötig, nicht etwa weil sie unparteiisch sind, sondern weil sie die Führung entlasten, die nicht permanent an die Regierungsgeschäfte gefesselt sein will. Gibt es für die Ämter genug Personal aus einem prosperierenden Mittelstand, dann kann man auf Gesetze verzichten, zumal ja alle lernen, zu regieren und sich regieren zu lassen. Die Beteiligung eines breiten Mittelstandes ist auch deshalb wünschenswert, weil dies die Spannung zwischen der reichen Elite und der Menge mindert, und Bescheidenheit ohnehin der Vernunft näher ist als Pracht und Reichtum. Die wichtigsten Entscheidungen werden also – im heutigen Sinne demokratisch – von der Bürgerversammlung getroffen, auch werden die Beamten vom Volk gewählt, allerdings stammen sie in der Regel aus der Oberschicht. Das Resultat ist eine Mischverfassung aus demokratischen und aristokra­tischen Elementen, die in etwa das Gegenüber von zwei Kammern in modernen Demokratien vorzeichnet. Sicherlich fehlt in dieser Verfassung der breite Bereich heutiger Parteien und Verbände, einer unabhängigen Presse sowie ein gesetzgebendes Organ im heutigen Sinn.[8]

 

Die Funktion der Polis für das gute Leben bleibt weitgehend auf formale Aspekte beschränkt. Sie greift nicht direkt in das Glücksstreben der Bürger ein, das politische Leben ist nicht das höchste Ziel. Vielmehr ruht das Politische seinerseits auf den genannten sozialen und ökonomischen, also vorpolitischen Voraussetzungen und hat diese zu respektieren. Es ist vor allem – und auch dies an die Adresse aller Gewaltapologeten – die bereits genannte Freundschaft, die einen Zusammenhalt stiftet, der durch Zwang nie erreicht wird, sondern sich einer bewusst gewählten und eher schwach regulierten, gleichwohl verlässlichen Verabredung zwischen Gleichen, durchaus aber auch zwischen Ungleichen verdankt. Sie könnte ein Vorbild für den neuzeitlichen Begriff der Gesellschaft liefern und wird nicht zufällig in der „Ethik“ und nicht in der „Politik“ behandelt. Freunde sind vereint, ohne ihre Selbständigkeit aufzugeben; sie zerstreiten sich nicht, und sie verschmelzen und unterwerfen sich nicht, sie suchen ihr Glück gemeinsam, zwischen ihnen braucht es keine Gerechtigkeit. In Richtung auf eine universale Nächstenliebe wird der Gedanke der Freundschaft jedoch von Aristoteles nicht weiterentwickelt.

 

Mit seinen beiden Werken Ethik und Politik begründet er die Unter­scheidung von Individualethik und politischer Ethik. Dient die „Ethik“ dem Einzelnen, seinen Weg zum Glück zu prüfen, so die „Politik“ der gesamten Polis. Neben der hierfür vorgelegten gründlichen Unter­suchung des Leitbegriffs der Gerechtigkeit besticht in seiner politischen Theorie insbesondere seine qualitative und vergleichende Studie über griechische Verfassungen. Die aristokratisch-demokratisch verfasste Polis siegt in diesem Vergleich über reine Demokratie, Monarchie, Oligarchie, Tyrannis.

 

Fazit: Die allerersten Grundsteine der Wissenschaft wurden zwar bereits in den 200 Jahren vor Platon und Aristoteles gelegt, in Milet von Thales, Anaximander und Anaximenes, in Ephesus von Heraklit, im unter­italienischen Velia (heute Paestum) von Parmenides und Zenon, in Agrigent auf Sizilien von Empedokles. Auf breiter Front geschichts­wirksam aber wurden die Werke Platons und Aristoteles’. Hier wurde nicht nur nachgedacht, sondern auch über das Nachdenken nachgedacht.

 

Stellvertretend für die Revolution der modernen Naturwissenschaften seit dem 15. Jhdt. können die Namen Galileo, Descartes und Newton stehen und mit ihnen die Entscheidung für die konsequente Anwendung der Mathematik auf die Erforschung der Natur. Es war nun nicht der anschauliche und durchaus eindrucksvolle aristotelische Weg der Erfahrung und Sinneswahrnehmung, sondern der platonisch-archime­dische Weg prinzipiengeleiteten Denkens, der zur experimentell streng kontrollierten Erkenntnis führte. Der heute klassische und seinerzeit gegen jeden gesunden Menschenverstand notierte Satz aus Galileos Buch II Saggiatore von 1623 lautet: „Das Buch der Natur ist in der Sprache der Mathematik geschrieben, und ihre Buchstaben sind Dreiecke, Kreise und andere geometrische Figuren, ohne die es ganz unmöglich ist, auch nur einen Satz zu verstehen, ohne die man sich in einem dunklen Labyrinth verliert“.[9] Die platonische Ideenlehre und die aristotelische Wissenschaft kannten die moderne experimentelle Versuchsanordnung noch nicht.[10] Erst die späte Verbindung der aristotelischen Neugier für die Erscheinungen mit dem platonischen Vertrauen in die Gesetze eröffnete in der etwa zweihundertjährigen Epoche zwischen Kopernikus (1473-1543) und Newton (1643-1726) den Weg in die exakten Naturwissenschaften als Grundlage moderner Zivilisationen.[11]

 

 

[1]    Vgl. Wright, Michael T. (2002): Epicyclic Gearing & the Atikethyra Mechanism Part I, in: Antiquarian Horology 27/2002/3, 270-279; ders. (2005a): Epicyclic gearing and the Antikythera Mechanism, part II, in: Antiquarian Horology 29/2005/1, 51–63; ders. (2005b): The Antikythera Mechanism and the early history of the moon phase display, in: Antiquarian Horology 29/2006/3, 319–329; ders. (2007): The Antikythera Mechanism reconsidered, in: Interdisciplinary Science Reviews 32/2007/1, 21–43; Freeth, Tony et al. (2006): Decoding the ancient Greek astronomical calculator known as the Antikythera Mechanism, in: Nature 444 (7119), 587–591; ders. (2008): Calendars with Olympiad display and eclipse prediction on the Antikythera Mechanism, in: Nature 454 (7204), 614-617; Marchant, Jo (2006): In search of lost time, in: Nature 444 (7119): 534–538; ders. (2008): Decoding the Heavens – Solving the mystery of the world’s first computer, London; Deutsch (2011): Die Entschlüsselung des Himmels: Der erste Computer – ein 2000 Jahre altes Rätsel wird gelöst, Reinbek 2011; Carman, Christian C. et al. (2012): On the Pin-and-Slot Device of the Antikythera Mechanism, with a New Application to the Superior Planets, in: Journal for the History of Astronomy 43/2012, 93–116; Kaltsas, Nikolaos et al. (2012, Hrsg.): The Antikythera Shipwreck: The ship, the treasures, the mechanism. National Archaeological Museum, April 2012-April 2013, Athens; Carman, Christian C. / Evans, James (2014): On the epoch of the Antikythera mechanism and its eclipse predictor, in: Archive for History of Exact Sciences 68/2014/6, 693–774.

[2]    Aus der Fülle der Literatur zu Platon nenne ich nur zwei jüngere Titel, die einen guten Einstieg bieten: Zehnpfennig, Barbara (1997, 20053): Platon zur Einführung, Hamburg; Horn, Christoph et al. (2009; Hrsg.): Platon Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart / Weimar.

[3]    Fricke, Gerhard / Göpfert, Herbert (19939, Hrsg.): Friedrich Schiller. Sämtliche Werke, Darmstadt, Bd. V, 570-669, 571f.

[4]    Die Seele ist zum einen neben Kosmos und Polis Gegenstand der ordnenden Bemühungen, zum anderen ist sie der eigentliche Akteur. Diese Rolle als Initiatorin harmonisierender Prozesse im Gesamt der dreifaltigen Natur ist es, die sie Jahrtausende später zum Projektionsschirm einer von jeglicher Naturbindung entschieden abgesetzten Subjektivität werden lässt. Die Stelle der Seele als Initiatorin wird das „Subjekt“ für sich beanspruchen, die Seele als Begriff und Gegenstand erfahrungsgeleiteter Betrachtung wird aus der neuzeitlichen Wissenschaft verschwinden. Damit wird es schwer, wenn nicht sogar unmöglich, „eine Kollektivregel oder ein angestrebtes Resultat sozialen Handelns zu rechtfertigen, wenn deren »Natürlichkeit« nicht angeführt werden kann“ [Wagner, Peter (1995): Soziologie der Moderne, Frankfurt M, 66]. Diesen „modernen“ Orientierungsverlust empfanden schon die Mitglieder der platonischen Akademie.

[5]    Hier ebenfalls nur einige weiterführende Titel: Höffe, Ottfried (1996, 20063): Aristoteles, München; Rapp, Christof (2001, 20124): Aristoteles zur Einführung, Hamburg; Rapp, Christof, Corcilius, Klaus (2011): Aristoteles-Handbuch. Leben - Werk – Wirkung, Stuttgart / Weimar; Flashar, Hellmut (2013): Aristoteles: Lehrer des Abendlandes, München.

[6]    gl. Tanner, Klaus (1993): Der lange Schatten des Naturrechts. Eine fundamentalethische Untersuchung, Stuttgart; Rothaar, Markus / Hähnel, Martin (2015, Hrsg.): Normativität des Lebens - Normativität der Vernunft?, Berlin.

[7]    Vgl. Gigon, Olof (1973, 19988): Aristoteles. Politik, München, 23 f..

[8]    Vgl. Oberndörfer, Dieter / Rosenzweig, Beate (2000, Hrsg.): Klassische Staatsphilosophie. Texte und Einführungen, München; Sartori, Giovanni (20063): Demokratietheorie, Darmstadt; Schmidt, Manfred G. (20105): Demokratietheorien. Eine Einführung, Wiesbaden; Massing, Peter / Breit, Gotthard (20118, Hrsg.): Demokratietheorien. Von der Antike bis zur Gegenwart. Texte und Interpretationen, Bonn.

[9]    Vgl. Koyré, Alexandre (1998): Leonardo, Galilei, Pascal. Die Anfänge der neuzeitlichen Naturwissenschaft, Frankfurt M.

[10]   Vgl. Dijksterhuis, Eduard J. (1956, Reprint 1983): Die Mechanisierung des Weltbildes, Berlin / Heidelberg / New York NY, 78ff.

[11]   Vgl. a.a.O., 319ff.