Hartwig von Schubert

Hamburg 2016

www.protestantacademy.eu

 

 

 

Ethisch argumentieren

 

Eine offene und freiheitliche Gesellschaft steht und fällt mit der Pflege der engagierten politischen Debatte. Gut debattieren und argumentieren zu können, ist aber keine Selbstverständlichkeit. Nur allzu schnell drohen Diskussionen mit Freunden, in der Familie, in der Talkshow hitzig zu werden. Jeder will nur seine Meinung zu Gehör bringen. Man fällt sich ins Wort, jeder redet, keiner hört zu, geschweige denn, dass alle gemeinsam einen Lernerfolg oder Erkenntnisgewinn verzeichneten.

 

Wem das nur allzu bekannt ist, für den gehört es zum guten Ton, solche Auseinandersetzungen generell zu vermeiden: In einer kultivierten Gesellschaft redet man nicht über Politik, genauso wenig wie über Religion. Das ist eigentlich schade. Denn wo will man dann überhaupt noch miteinander über die gemeinsamen Anliegen, die res publica, ins Gespräch kommen? Und welcher anständige Bürger wird sich dann noch öffentlich engagieren oder gar in die Politik gehen wollen? Und wie soll eine Gesellschaft dann an moralisch-ethischer Orientierung gewinnen können?

 

Das im Download  in der parallelen PDF-Datei gezeigte Schema der fünf Dimensionen einer Botschaft soll anleiten, Debattenverläufe gezielt daraufhin zu untersuchen, wo der Fluss der Gedanken und Gefühle ausufert, sich im Kreise dreht oder versiegt. Wird ein Dialogbeitrag sorgfältig auf jede der fünf Dimensionen untersucht, dann lässt sich vielleicht erkennen, woran und warum genau eine Verständigung in die Krise geraten kann. Das Schema dient dazu, diese Punkte im Alltag anhand der ersten Zeile zu identifizieren und zu analysieren, um dann an der betreffenden Prüfstation gemäß der zweiten und dritten Zeile an einer Lösung zu arbeiten.

 

Beim Urteilen zählen Argumente. Ein Argument ist eine Aussage, die eine andere Aussage stützen und bekräftigen soll. Aussagen aus den jeweiligen Dimensionen der Selbstoffenbarung, des Sachinhalts, der Beziehung, der Normen und des Appells verknüpfen und stützen sich wechselseitig zu einem stabilen Netz. So kann ich die Erklärung eines Sachverhaltes dadurch untermauern, dass ich die Absicht kundtue, mit der ich diese Erklärung vorbringe. Beides kann ich noch einmal dadurch bekräftigen, dass ich auf eine Norm verweise, die mich bei der Verfolgung meiner Absicht leitet. Und schließlich kann ich alles zusammen in einen ermutigenden und hoffnungsfreudigen Appell münden lassen, sich meiner Absicht tätig anzuschließen. Möchte also jemand seine Fertigkeit in der Kunst des Argumentierens steigern und dazu einer Überprüfung unterziehen, so kann er den Grad seiner Virtuosität erproben und Argumentationsketten, - netze und -muster so entwickeln, dass er dabei Gesichtspunkte aus allen fünf Dimensionen angemessen zur Wirkung bringt. Das lässt sich gemeinsam üben.

Aus dem Essay zum Urteilen entnehme ich einmal zwei exemplarische Fragen und füge eine dritte hinzu:

1.   Gesundheit: Sollen schwangere Frauen ihr Kind schon vor der Geburt diagnostisch möglichst umfassend untersuchen lassen?

2.   Geld: War die Einführung des Euro für die Deutschen und für die Griechen und alle anderen Länder des Euro-Raums eine gute Idee?

3.   Migration: Sollte die Bundesregierung eine Obergrenze für die Zahl der jährlichen Zuwanderung festlegen?

Was trägt nun die Ethik zur Willens- und Urteilsbildung in solchen aktuellen Kontroversen bei? Sie begrenzt den Spielraum legitimer Moralvorstellungen, Rechtskulturen und Interessen, sie liefert das Forum, in dem diese friedlich und gerecht austariert und abgesteckt werden. Sie erarbeitet ideelle Grundlagen für gute Argumente in guten, d.h. gewalt- und herrschaftsarmen Kommunikationsverfahren, und sie verfolgt dies als angewandte Ethik in diversen Feldern. Wie sich Moral, Recht und Ethik unterscheiden und aufeinander beziehen, möchte ich mit der ebenfalls in der PDF-Datei gezeigten Tafel erläutern.

 

Die Erläuterungen dazu hier im Einzelnen: Von Aristoteles stammt die hilfreiche Unterscheidung von Praxis und Poiesis. Praxis umfasst alle Tätigkeiten, die um ihrer selbst willen getan werden, ihren Zweck also in sich selbst haben, so gesehen also zwecklos sind. Poiesis ist der Sammelbegriff für alle Tätigkeiten, die ihren Zweck nicht in sich selbst haben, sondern in einer weiteren übergeordneten Tätigkeit. So fällt das tägliche Üben für die Vervollkommnung eines Werkes unter Poiesis. Der Genuss des Werkes allein um des Werkes willen dagegen ist Praxis. Die Unterscheidung soll Menschen anleiten, nach dem zu fragen, wofür sie leben und worin sie zur Erfüllung kommen wollen und welche Schritte dorthin führen.

 

Oftmals wundern wir uns und wollen verstehen und beurteilen, warum und wozu Menschen handeln. Worauf sind sie aus? Warum tun sie dies und unterlassen das, streben nach diesem, vermeiden oder verhindern jenes? Warum handeln sie einmal so und ein andermal anders? Um mich mit dem Leser auf einige Grundbegriffe zu einigen, die bei Erörterungen über menschliches Handeln üblich sind, mache ich neun grob aufeinander abgestimmte terminologische Vorschläge, die sich im Wesentlichen an kantische Bestimmungen anlehnen und hier und da ältere und jüngere Begrifflichkeiten aufnehmen.

 

Meine These lautet: Worin auch immer Menschen ihre Erfüllung sehen, auf dem Wege dorthin entwickeln sie eine Vorstellung darüber, was ihnen als (1) geschickt und (2) klug erscheint. Eingebettet ist dies, sofern sie sich als soziale Wesen verstehen, in Versuche, sich (3) politisch zu organisieren und sich dabei zugleich entlang von (4) Moralvorstellungen und (5) rechtlichen Gesetzen zu orientieren. Beim Einzelnen spiegelt sich diese Orientierung in seinem (6) Gewissen, in seiner Tugend und seiner Haltung. Im Zusammenleben orientieren sich die Einzelnen wiederum in Prozessen (7) gegenseitiger Rechenschaft und kollektiver Verantwortung. Individuelles Gewissen und kollektive Verantwortung wirken vermutlich wechselseitig aufeinander. Das Ergebnis kann eine (8) Regel oder eine Norm sein, die verschiedene Kriterien für Handlungsentscheidungen zusammenführt. Erst mit den wissenschaftlichen Diskursen zur Begründung und Weiterentwicklung von komplexen Systemen von Regeln und Normen betreten wir die Ebene der (9) Ethik bzw. der Rechtsethik. Von dieser Ebene aus können nun wissenschaftlich umfassend begründete Urteile über Handlungen getroffen werden, in denen alle neun vorhergehenden Gesichtspunkte zusammenfließen. Das Urteilen habe ich in einem eigenen Essay angesprochen.

 

Die Einsicht, dass sich die zentralen Aspekte Geschick und Klugheit, Politik und Moral, Recht und Ethik im Urteilen und im Handeln vermutlich immer bündeln und miteinander verschmelzen, sollte davor warnen, sie trennscharf voneinander abgrenzen zu wollen. Die Übergänge sind fließend, die Sinnachsen laufen mal parallel, gelegentlich kollidieren sie. Jeder Aspekt folgt einer Hauptachse, die ich im Folgenden herausarbeiten möchte.

 

1. Geschicklichkeit ist die Beherrschung einer Materie anhand eines Mittels zu einem gewünschten Zweck, z.B. eines Werkzeugs in einem Handwerk, einer Waffe in einem Kampf, einer Arznei bei der Behandlung einer Krankheit, eines Balles in einem Spiel, einer Methode bei einer Untersuchung eines Gegenstandes, eines Argumentes in einer Debatte. Sie umfasst Prädikate wie Effizienz, Effektivität, Präzision, Haltbarkeit, Stabilität, Flexibilität. Rein praktisch-technisch-instrumentelle Normen schreiben die formalen Strukturen, Prozesse und Ergebnisse vor, nach denen die betreffende Praxis erforscht, gelehrt und erlernt, geübt und ausgeübt und weiterentwickelt wird. Wer sein Handwerk in jeder dieser Teilschritte und in körperlicher, seelischer, also emotionaler und geistiger Hinsicht beherrscht, ist ein virtuoser Meister seines Fachs. Äußerst praktisch ist eine gute Theorie. Zur vollendeten Meisterschaft bedarf es eines besonderen Talentes und Genies. Bei großen Künstlern sprechen wir weniger von Geschicklichkeit als z.B. von Virtuosität, bei geistigen Fähigkeiten von Intelligenz.

 

2. Klugheit ist die Verwendung eines Mittels für einen nützlichen Zweck in umsichtig und vorausschauend wohlkalkuliertem Eigeninteresse. Das Handwerk mehrt das Einkommen, der Kampf führt zum Sieg, die Methode zur Erkenntnis, das Argument überzeugt. Klug nennen wir z.B. Paare, die ihre Lage erkennen und knappe Güter zum Wohle ihrer ganzen Familie für mögliche schlechte Zeiten aufsparen und pfleglich aufbewahren. Klug ist, wer ökonomisch und strategisch denkt und sein Hab und Gut bewahrt und mehrt. Klug ist nicht schon der, der seine Interessen, sondern nur derjenige, der gebildete Interessen verfolgt. Klugheit und Geschicklichkeit unterscheiden sich, da man bekanntlich sehr geschickt und dennoch unklug handeln kann, wenn man z.B. hocheffizient genau den Ast absägt, auf dem man sitzt.

 

3. Politik ist der Name für diejenige Praxis, in der Menschen ihre vielfältigen, aber doch alle angehenden Anliegen in Sachen Geschicklichkeit und Klugheit milieu- und kulturübergreifend und einvernehmlich zu gesellschaftlichen Interessen bündeln, ordnen, organisieren und institutionalisieren und sie angesichts von Interessenkonflikten in Kult-, Herrschafts- und Rechtsordnungen durchsetzen. Nicht selten wird die Ansicht vertreten, dass es letztlich „nur“ nüchterne Interessen sind und nicht die hehre Moral, die das Handeln von Menschen bestimmen. Die Politikwissenschaft kennt aber mindestens drei klassische Denkschulen: die neorealistische Schule geht vom Interessen- und Machtkalkül aus[1], die liberal-institutionalistische Schule rechnet mit aufgeklärten Vernunftprinzipien[2], die konstruktivistische Schule eher mit situationsbedingten teils opportunistischen teils prinzipiengeleiteten Mischungen, Abwägungen und Präferenzen.[3] Alle drei zusammen spiegeln vermutlich den mal mehr, mal weniger erfolgreichen und nie abgeschlossenen Versuch, aus dem Naturzustand in den bürgerlichen Zustand zu wechseln.

 

3.1. Von Gesellschaften im modernen Sinne sprechen wir, wenn menschliche Ordnungen nicht als Ergebnis kosmischer oder göttlicher Gesetzen hingenommen werden, sondern wenn eine Gesellschaft sich selbst als Autorin und Gesetzgeberin ihres Schicksals versteht. Bei der Entwicklung der Herrschaftsform tendieren solche Gesellschaften zur Demokratie, aber auch absolute Monarchien und Diktaturen können bei entsprechend breiter Akzeptanz in diesem Sinne als „modern“ gelten. In diesem Sinne verstanden, ist „Modernisierung“ nicht per se an die Idee der Menschenrechte gekoppelt. Vielmehr soll die Befolgung der Menschenrechte Probleme lösen, die u.a. durch Modernisierungen massiv verstärkt werden.

 

3.2. Wo immer Zwecke gesetzt werden, sei dies als das Politische bezeichnet, wo immer diese Zwecke auf einen in hohem Grade gewaltbewehrten Gegenwillen treffen und deshalb zunächst dessen Herrschaftsanspruch oder andere hohe Barrieren zu überwinden sind, sei dies als das Strategische bezeichnet. Die Strategie definiert die Ziele, die eine Organisation als ganze zur Erfüllung eines Zwecks erreichen muss. Auf der strategischen Ebene geht es um die Führung der gesamten Organisation, auf der operativen Ebene um die der Hauptabteilungen, auf der taktischen Ebene um die der Unterabteilungen. Wer strategisch, operativ und taktisch klug oder mit Max Weber gesprochen „zweckrational“ handelt, wägt frühzeitig Zwecke, Ziele, Mittel, Folgen und Nebenfolgen sorgfältig ab, und entscheidet sich dann dem leitenden politischen Zweck entsprechend für die optimale Abstimmung der Zweck-Ziel-Mittel-Relation. Je komplexer die Sphären des Politischen und des Strategischen jeweils in sich selbst sind, desto mehr müssen Politiker und Strategen voneinander lernen, desto anspruchsvoller wird ihre Kommunikation. Wer den Zweck definiert, hat das Nachfragemonopol, wer sich mit Zielen und Mitteln auskennt, hat das Angebotsmonopol. Bei zweckrationalen Handlungen liegt der Primat also per definitionem bei der Politik.

 

3.3. Die Adjektive geschickt und klug, auch im politischen Sinne, werden zuweilen in dem Wort „pragmatisch“ zusammengefasst. In der Philosophie, Linguistik und Kommunikationstheorie stehen „Pragmatik“ und „Pragmatismus“ für bestimmte Fächer und Schulen. Umgangssprachlich dagegen wird eine Lösung dann „pragmatisch“ genannt, wenn sie sich als „praktisch“, „nützlich“, „sachlich“, „fachkundig“ und „undogmatisch“ erweist. Der Begriff der Politik steht damit an der Grenze zwischen Pragmatik und Ethik. Ich rechne ihn deutlich mehr auf die Seite der Ethik, wenn denn Politik auf das Wohl der Polis und nicht das der Politiker gerichtet sein soll.

 

4. Moral steht für ein verhaltensbestimmendes Orientierungswissen Einzelner oder einer Gruppe oder Gemeinschaft, das über Geschicklichkeit und Klugheit hinausgeht und sich oftmals auch der politischen Beherrschung entzieht. Im Begriff der Moral liegt der Anspruch, die Geschicklichkeit, die Klugheit und auch die Politik zu bestimmen und nicht umgekehrt. Wer geschickt, klug und politisch erfolgreich moralische Bedenken überspielt, den nennen wir „schlau“, es bleibt dabei ein Unbehagen. Denn in ihrer Moral geben sich Menschen eine höhere Bestimmung, z.B. wie die Helden mythischer Vorzeit. Sie sind emotional berührt, ergreifen intuitiv Partei, wählen hehre Ziele, trotzen Gefahren, nehmen Entbehrungen auf sich und setzen sich mit großer Leidenschaft notfalls bis zur Hingabe des eigenen Lebens für die große Aufgabe im Dienst der Gemeinschaft ein. Geschicklichkeit und strategische und politische Klugheit werden dabei nicht außer Kraft gesetzt, sondern in den Dienst der höheren Sache gestellt. Dabei können sehenden Auges Risiken eingegangen werden, denen man sonst ausweichen würde. Läuft das nun den eigenen Interessen zuwider oder sollten wir einfach von höheren oder übergeordneten, z.B. sozialen Interessen sprechen, die die nachgeordneten übersteuern? Hier öffnen sich die Debatten um die Soziobiologie und Biosoziologie.[4]

 

4.1. In der Regel wird die Moral einer Kultur durch Mythen begründet und tradiert und durch Riten zu Institutionen verfestigt, die emotionale Bindungen stiften und Traditionen, Sitten und Manieren prägen. Was sind Mythen? Das sind Interpretationen epochaler Erfahrungen, sie stiften gemeinschafts- und institutionsbildenden Sinn durch bildhafte Erzählungen aus weltentscheidender Zeit. Was sind Institutionen? Das sind Sätze von Regeln und Ressourcen, auf die sich Menschen in ihrem gemeinsamen Handeln unhinterfragt beziehen. Die aufgeklärte Religion weiß, dass die Bilder Bilder sind, sie ergänzt die mythischen Bilder und die oftmals eher unbewusst angeeignete Moral durch zunehmend rationale Begründungen. So postuliert z.B. die Moralphilosophie in der Tradition Immanuel Kants mit dem Begriff des guten Willens die innere Freiheit vernünftiger Individuen, sich selbst ein Gesetz zu geben, welches mit ihrer und der Freiheit aller anderen Vernunftwesen übereinstimmt. Die Vernunft selbst spricht hier zu ihren Vernunftwesen im Interesse ihrer, d.h. der Vernunft Selbsterhaltung. Als offenes, inklusives, universelles und unendliches Prinzip ist dies durch und durch idealistisch, denn die menschliche Praxis ist immer endlich: Niemand kann sich um alle kümmern; wer die einen einschließt, schließt andere aus. Deshalb ist z.B. die Freiheit aller Menschen ein regulatives Ideal, das dem Streben nach Rede- und Glaubensfreiheit und Freiheit von Furcht und Not ein unendliches Ziel setzt.

 

4.2. Die Weise, wie Menschen handeln und ihre Politik und ihre Moral ausbilden, ist in hohem Maße pfadabhängig, denn das Handeln steht in Wechselwirkung mit den Beziehungen und Verhältnissen, in denen Menschen leben. Die Art der Beziehungen prägt die Art der Handlungen und umgekehrt. Wer z.B. aggressiv und rücksichtslos handelt, steckt andere damit an. Reagieren sie aggressiv, kann er sich bestätigt fühlen. Je aggressiver die Stimmung in einem Milieu, desto aggressiver handeln seine Mitglieder. Dasselbe gilt für friedliches und faires Verhalten. Auch das wirkt ansteckend. Die Übergänge sind oft fließend und verstecken sich in Nuancen, Extreme können gefährlich werden. Ein friedliebender Mensch mag sogar – vielleicht inspiriert durch die Lehren Buddhas, Sokrates oder Jesu – auf Selbstverteidigung verzichten und auf die Kraft menschlicher Güte vertrauen und das Risiko, dabei ausgenutzt zu werden, willig tragen. Angesichts der Gefahr gefährlicher Angriffe lädt er so jedoch auch Anderen erhebliche Risiken auf. Moralische Kompetenz ist sicher eine Sache der Urteilsfähigkeit von Einzelnen, angesichts der Pfadabhängigkeit aber zugleich von kulturell vermittelten, z.B. professionellen Routinen und Kulturen, die in Übereinstimmung mit dem einschlägigen Recht zur entsprechenden Habitusformation der betreffenden Profession beitragen. Das gilt für Pfarrer[5], für Lehrer[6], für Ärzte[7], für Kaufleute[8], für Polizisten[9], für Soldaten.[10] Der soziologische Fachbegriff zeigt an, dass Professionen eine Gesamtheit an typischen Verhaltensmustern und einheitlichen Formen der Selbstdarstellung namens Habitus ausbilden. Die moralischen Prinzipien und Kriterien sind in diesen eingeschrieben, so dass der Einzelne insbesondere unter dem Stress des Berufsalltags entlastet ist und auf weite Strecken „nur“ so handeln muss, wie er ausgebildet, trainiert und von seinem Vorgesetzten instruiert wurde oder sich in seinem Team verständigt hat. Nur in Ausnahmefällen stellen sich Situationen, die das professionelle Reglement noch nicht erfasst hat, dann aber zügig erfassen sollte. Insbesondere bei der Ausübung hoheitlicher Gewalt gegen gewaltbereite Gegner und beim ärztlichen Streben gegen Krankheit und Tod ist zum einen eine Balance aus Strenge und Milde, aus Abschreckung und Kooperation zu suchen, zum anderen wirken sich professionelle Deformationen hier besonders gravierend aus. Wer z.B. auf Frieden aus ist, wird die Spirale der Gewalt möglichst nicht weiter nach oben drehen, sondern bei der ersten sich bietenden Gelegenheit wenden und der Gewalt mit Humor, Anstand und Fairness begegnen. Aber solche Gelegenheiten und das entsprechende Vertrauen muss man sich mit viel Geduld im politischen Prozess erarbeiten. Die genannte Wechselwirkung gilt im Kleinen alltäglicher Begegnungen z.B. bei persönlichen Vorurteilen wie auch im Großen gesellschaftlicher Verhältnisse.

 

4.3. Eine konkrete gelebte Moral gilt wie übrigens auch ein konkretes positives Recht faktisch immer nur partikular und regional begrenzt, innerhalb ihres Geltungsbereichs jedoch universell, und sie ist prinzipiell offen für Erweiterungen. Die Moral einer Mafia oder das Recht eines rassistischen Staates mögen zwar Entsagung und Disziplin, Mut und Tapferkeit fordern, sie sind jedoch gemessen an den Idealen der Würde, Gleichheit und Freiheit aller Menschen prinzipiell geschlossene, exklusive, selektive und deshalb ethisch völlig inakzeptable Normensysteme, die Nichtmitgliedern die Menschenrechte aberkennt. In einem vorkritischen Denken kann Moral erheblich von Ethik abweichen, in einem kritischen Verständnis konvergiert die Moral mit der Ethik.

 

5. Recht ist der Name eines Orientierungswissens, das sich noch einmal deutlich von handwerklich-fachlichem Geschick, von Klugheit, Politik und auch von Moral unterscheidet, obgleich es sie alle voraussetzt. Denn für das äußerliche Zusammenleben potentiell aller Vernunftwesen ist nun ein wie bei der Moral ebenfalls erfahrungsunabhängiger, rein rationaler Begriff zu finden, der im Unterschied zur Moral aber eine äußere Freiheit in Gemeinschaft ermöglicht, und das ist das Recht. Es ist „der Inbegriff der Bedingungen unter denen die Willkür des einen mit der Willkür des anderen nach einem allgemeinen Gesetze der Freiheit zusammen vereinigt werden kann“, so Kant in den Metaphysischen Anfangsgründen der Rechtslehre im Rahmen seiner Metaphysik der Sitten von 1797 / 1798 (AA VI, 230 RL § B.). Nicht eine höhere Einsicht in einen allgemeinen Willen, nicht das gute Leben, nicht die Stimme des Naturrechts, nicht einmal die innere Freiheit, sondern ausschließlich die äußere Freiheit wird inhaltlich bestimmt und zwar als Macht und Recht jedes Menschen zu tun, was er will, zu lassen, was er will, zu leben wie er will. Und diese äußere Freiheit soll nur eine einzige Grenze haben, und das ist die äußere Freiheit des Anderen. Denn wenn Willkür freigestellt und ihr keinerlei innere Selbstbeschränkung auferlegt wird, muss eine äußere Beschränkung an deren Stelle treten. Die Rechtsgemeinschaft ist verpflichtet, einen legitimen Zwang auszuüben, der jedoch nicht der Willkürfreiheit eines Einzelnen, sondern aller Einzelnen Raum verschafft und damit der Gerechtigkeit notfalls gegen die Willkür­freiheit eines Einzelnen und gegen positives Recht Genüge tut.[11]

 

5.1. Das Recht gründet auf dem freien Entschluss, sich überhaupt auf das Recht als selbstorganisierendes Medium im Kampf um Recht und Gerechtigkeit einzulassen. Recht gründet auf Gewaltverzicht, zu seiner Erhaltung jedoch ist Gewalt legitim, frei nach dem Faust-Zitat „Das erste steht uns frei, beim zweiten sind wir Knechte“. Und Gerechtigkeit meint hier zunächst nur, Gleiches gleich und Ungleiches ungleich zu behandeln. Auch der Streit zwischen verschiedenen Rechtsauffassungen und Rechtssystemen wird ebenfalls im Medium des Rechts ausgetragen, durch Einschaltung einer höheren Instanz. Auf diese Weise ist positives Recht, das dieser Rechtsidee folgt, immer das Ergebnis von Verhandlungen zwischen prinzipiell freien und vor dem gemeinsam zu schaffenden Recht gleichen Partnern.

 

5.2. Mehr als von der Zwangsandrohung lebt das Recht von der Rechtstreue der Rechtsgenossen und der Erwartung ihrer Festigkeit trotz wiederholter Enttäuschung. Diese wird durch eine plausible rechtsethische Begründung von Gesetzen unterstützt. Denn positives Recht muss nicht Recht im Sinne des genannten Ideals sein, in totalitären Systemen herrscht sogar systematisch rechtsförmiges Unrecht. Man kann nämlich geschickt, klug und politisch gut organisiert und sogar legal handeln und handelt dennoch unmoralisch. Dann kann es moralisch geboten sein, gegen das vordergründige Eigeninteresse, gegen die Mächtigen und gegen gesetztes Recht zu handeln (Radbruch’sche Formel). In der Regel ermöglichen demokratisch-rechtsstaatliche Verfassungen jedoch, Herrschaftsstrukturen und Recht in politisch geordneten Verfahren und nach menschenrechtsethischen Prinzipien kontinuierlich weiterzuentwickeln.

 

5.3. Als institutionelle Rahmungen von Rechtsordnungen haben sich in modernen Gesellschaften Nationalstaaten als Rechtsstaaten herausgebildet und sich gegen konfessionelle und imperiale Ordnungsvorstellungen weithin durchgesetzt. Die nationalstaatlich verfassten Rechtsordnungen haben sich im 20. Jhdt. offiziell einer internationalen Rechtsordnung als Friedensordnung unterworfen. Deren Grundlage bleibt die sogenannte „Westfälische“ Welt souveräner Staaten, die sich in der VN-Charta auf ein Gewaltverbot verpflichtet haben. Es gelten nur zwei Ausnahmen: Sie dürfen sich selbst verteidigen und sie dürfen in Systemen kollektiver Sicherheit auch militärisch gegen Gefährdungen des Friedens in der Welt vorgehen und dürfen dabei als einzige das sogenannte Kombattantenprivileg zuteilen. Mit den im Recht bewaffneter Konflikte niedergelegten und gleichwohl hochproblematischen Handlungsbefugnissen des Kombattantenprivilegs – der Befugnis zur straffreien Tötung von Menschen – dürfen Staaten ihre Streitkräfte nur im Fall bewaffneter Konflikte ausstatten, ansonsten gelten friedensrechtliche Grundsätze.

 

5.4. Eine Verantwortung zum Schutz von Bürgern eines anderen Staates (Responsibility to Protect) unter Verletzung seiner Souveränität ist völkerrechtlich nicht kodifiziert. Als Menschenrechtsverletzungen, die ein Eingriff der Staatengemeinschaft in die Souveränität eines Staates verlangen können, gelten nur die folgenden vier Tatbestände: Völkermord, Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und ethnische Säuberungen.

 

5.5. Das Völkerrecht kennt kein letztes Gewaltmonopol, deshalb lebt es ausschließlich von der Rechtstreue insbesondere seiner Garantiemächte, die oftmals zu wünschen übriglässt. Politische Ethik, insbesondere wenn sie sich der Anwendung des staatlichen Gewaltmonopols widmet, ist vor allem Rechtsethik, die in Verbindung mit einer Polizeiethik oder einer Militärethik verfasst wird. Manche Staaten erlauben sich willkürlich, verdeckte Kriege zu führen und gegen den Grundsatz des Kombattantenprivilegs zu verstoßen. Sie statten Personen mit Kampfaufträgen aus, ohne dies öffentlich kenntlich zu machen. Sie begünstigen die Entstehung nicht-staatlicher Kampfverbände und vergeben Kampfaufträge an private Militärdienstleister. Sie schüren damit den unkonventionellen oder irregulären Krieg, und zwar nicht in dem Sinne, dass sie zum Einsatz von Massenvernichtungswaffen übergingen, sondern indem sie den Krieg entgrenzen und seine in den letzten zwei Jahrhunderten mühsam erstrittene Verregelung zunichtemachen. Sie verraten damit ihren eigenen Anspruch und riskieren, selbst zu Opfern ihrer Kurzsichtigkeit zu werden.

 

6. Von Gewissen, Tugend, Willens- und Urteilskraft, Charakter, Haltung, Mentalität, Manieren, Ehre oder Anstand sprechen wir, wenn moralische Prinzipien und rechtliche Vorschriften durch Nachahmung, Erziehung, Unterricht und Übung erlernt und verinnerlicht werden.

 

6.1. Ein zentraler Aspekt jeder Tugendlehre ist die Suche nach der von Aristoteles in die Ethik eingeführten Mitte. So liegt die Mitte zwischen Tollkühnheit und Feigheit in der Tapferkeit, zwischen Unerbittlichkeit und Willfährigkeit in einer individuellen Mischung aus Strenge und Milde. Die Tugend ist also nicht einfach die arithmetische Mittle zwischen zwei entgegengesetzten Lastern, sondern eine lebendige, situativ variierende Balance.

 

6.2. Bei diesem subjektiven Aspekt von Handlungen kommen Unterscheidungen zum Tragen z.B. zwischen „irrtümlich“, „versehentlich“, „fahrlässig“, „vorsätzlich“ und „absichtlich“. Sie betreffen im strengen Sinn nur Unterlassungen: Wer ungeachtet schädlicher Folgen handelt, weil er diese gar nicht erkennen konnte, handelt irrtümlich. Wer sie mit Glück hätte erkennen können und dann vermieden hätte, handelt versehentlich. Wer sie mit etwas Mühe hätte erkennen und vermeiden können, handelt fahrlässig. Wer sie erkennt und billigend in Kauf nimmt, handelt vorsätzlich. Wer sie geradezu wünscht und gezielt anstrebt, handelt absichtlich. Gegen Leichtsinn erziehen wir uns zu „Sorgfalt“, „Treue“ und „Gewissenhaftigkeit“. Gegen Fahrlässigkeit, Vorsatz und Absicht muss man schon mehr aufbieten, die intrinsische Motivation zur „Rechtstreue“ stärken und die Einhaltung von Pflichten anmahnen oder erzwingen. Der kantische Katalog der Pflichten enthält eine weitere wichtige Unterscheidung zwischen a) geschuldeten Pflichten, erstens gegen sich selbst, z.B. das Selbstmordverbot, zweitens gegen Andere, z.B. das Verbot falscher Versprechen, und b) freiwilligen Pflichten erstens gegen sich selbst, z.B. das Gebot der Persönlichkeitsentwicklung, zweitens anderen gegenüber, z.B. das Hilfegebot. Begriffe wie Hilfsbereitschaft, Mitleid und Barmherzigkeit zeigen an, dass Menschen emotional berührt sind und aus außeralttäglichen Quellen schöpfen.

 

6.3. Hilfreich ist die Unterscheidung von Primär- und Sekundärtugenden. Geschichtlich wirksam wurde z.B. die Liste der vier Primär- oder Kardinaltugenden, die Platon in der Politeia und den Nomoi vorstellt: die Klugheit (phrónesis) oder Weisheit (sophía) der Philosophenkönige, die Tapferkeit (andreia) der Wächter des Staates, die Besonnenheit (sophrosýne) aller ihrer Bürger und die Gerechtigkeit (dikaiosýne), die alle drei Stände zusammenhält. Der Begriff Sekundärtugend stammt aus dem deutschen Positivismusstreit und der Debatte um den Wertewandel in den 1970er/1980er Jahren. Disziplin, Fleiß, Fürsorglichkeit, Gehorsam, Großzügigkeit, Höflichkeit, Mut, Ordnungsliebe, Pflichtbewusstsein, Pünktlichkeit, Treue, Sauberkeit, Selbstbeherrschung, Sparsamkeit, Sorgfalt, Strenge, Wahrhaftigkeit, Zuverlässigkeit können einem guten Willen zwar dienlich sein und ohne sie wäre er sogar recht schwach, aber sie flankieren ihn nur: „Einige Eigenschaften sind sogar diesem guten Willen selbst beförderlich und können sein Werk sehr erleichtern, haben aber dem ungeachtet keinen inneren unbedingten Wert, sondern setzen immer noch einen guten Willen voraus, der die Hochschätzung, die man übrigens mit Recht für sie trägt, einschränkt und es nicht erlaubt, sie für schlechthin gut zu halten. Mäßigung in Affekten und Leidenschaften, Selbstbeherrschung und nüchterne Überlegung sind nicht allein in vielerlei Absicht gut, sondern scheinen sogar einen Teil vom inneren Werte der Person auszumachen; allein es fehlt viel daran, um sie ohne Einschränkung für gut zu erklären (so unbedingt sie auch von den Alten gepriesen worden). Denn ohne Grundsätze eines guten Willens können sie höchst böse werden, und das kalte Blut eines Bösewichts macht ihn nicht allein weit gefährlicher, sondern auch unmittelbar in unsern Augen noch verabscheuungswürdiger, als er ohne dieses dafür würde gehalten werden.“ (Kant im berühmten ersten Abschnitt der Vorrede seiner „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“ AA IV, 394).

 

7. Eine weitere hilfreiche Unterscheidung ist die zwischen Gewissen und Verantwortung. Auf der einen Seite stehen die Freiheit und das individuelle Gewissen, also die innere Überzeugung eines Einzelnen im Blick auf das, was für ihn und sein Umfeld „gut“ ist, bzw. in welchen Verhältnissen er leben möchte. Dem entspricht das Prinzip der Subsidiarität: es sorgt für den optimalen Grad an Eigenverantwortung und Selbstbestimmung des Einzelnen und der Entlastung der Gemeinschaft. Auf der anderen Seite stehen die Gerechtigkeit und die gesellschaftliche Verantwortung im Sinne der gemeinsamen Abstimmung Betroffener darüber, was für alle „gerecht“ ist. Hier leitet das Prinzip der Solidarität die Suche nach dem optimalen Grad an Unterstützung und Entlastung des Einzelnen und der Gewährleistung des Friedens in der Gemeinschaft. Gewissen bildet sich in Prozessen kollektiver wechselseitiger Verantwortung, Verantwortung lebt von der spontanen Stimme des individuellen Gewissens. Im Blick auf die Balance zwischen Subsidiarität und Solidarität wird man von einem „milden Paternalismus“ sprechen können. Wer den Einblick hat, weiß manches besser als der, der den Überblick hat, und umgekehrt. Von Paternalismus sprechen wir, wenn jemand deshalb für einen anderen Entscheidungen trifft, weil er sich sicher ist, dass er besser als jener weiß, was für ihn gut und für alle gerecht ist. Ein „milder“ Paternalist hütet sich jedoch davor, das zu weit zu treiben. Unter extremem Stress und bei extremer Gefahrenabwehr ist wiederum der „harte“ Paternalismus hierarchischer, von Befehl und Gehorsam geprägter Organisationen unvermeidlich.

 

8. Ein Gesetz, eine Regel oder Norm ist ein Bedingungssatz, der ein Prinzip auf eine Situation anwendet, so dass Handlungsanweisungen an bestimmte Voraussetzungen gebunden werden können, z.B. „Fahrzeuge müssen die Fahrbahnen benutzen, von zwei Fahrbahnen die rechte“ (StVO §1. Abs. 2) oder „Finden Alte im Bus keinen Sitz, sollen ihnen Junge ihre Plätze überlassen“. Eine Regel kann dem Allgemeinwohl dienen, also ethisch begründet sein wie im zweiten Beispiel im Prinzip der Gerechtigkeit, oder aus pragmatischem und politischem Interesse von einer Macht aufgestellt und mit Gesetzeskraft ausgestattet werden, wie z.B. ursprünglich durch Napoleon für Frankreich und die eroberten Gebiete im ersten Beispiel.

 

8.1. In jedem Fall gelten Regeln und Normen nicht nur für den Einzelfall, sondern für eine definierte Fallgruppe. Das Gebot schreibt ein Tun vor, das Verbot ein Unterlassen. Die Erlaubnis berechtigt, etwas zu tun, ganz gleich, ob es auch geboten ist oder nicht, es darf nur nicht verboten sein. Die Freistellung berechtigt, etwas zu tun oder zu unterlassen, sich also selbst zu gebieten, zu verbieten oder zu erlauben (= deontische Modalitäten). Dass moralische und rechtliche Prinzipien in Regeln gegossen werden können, beweist, dass Moral und Recht organisierbar sind. Völlig ausgereift ist dieser Prozess dann, wenn die Handelnden sich wie selbstverständlich in den Bahnen moralisch-rechtlich vorstrukturierter Institutionen bewegen, die Regeln nicht mehr hinterfragen und sie intuitiv beherrschen.

 

8.2. Um zu prüfen, ob und inwieweit ein Urteilsentscheid tatsächlich definierten idealtypischen Maßstäben und Regeln folgt, werden Kriterien angelegt. Am Beispiel rechtlicher Urteile: Nur diejenigen Instanzen sind legitimiert und stehen in der Verantwortung, für einen definierten Adressatenkreis rechtsverbindliche Handlungsregeln aufzustellen, anzuwenden und durchzusetzen, die die Freiheit aller Betroffenen dauerhaft unparteiisch zur Geltung kommen lassen. Nur diejenigen Handlungsgründe sind legitim, die die Freiheit potentiell Betroffener zur Geltung bringen, und nur derjenige Handlungszweck, der ihre Freiheit verwirklicht. Nur diejenige Handlungsweise ist legitim, die alle Mittel nach Maßgabe aller Zwecke im Blick auf die Freiheitsansprüche aller Betroffenen in ein angemessenes Verhältnis setzt.

 

9. Mit einigen der genannten Gesichtspunkte zu Politik, Moral und Recht war im Vorstehenden bereits die Ebene der Ethik oder der Moral- und Rechtsphilosophie erreicht. Das ist zunächst formal der Name für die kritische wissenschaftliche Erfassung, Begründung, Weiterentwicklung und Vermittlung von Normen der Moral und des Rechtes. Die Individualethik widmet sich eher der Gewissensbildung und Lebensführung von Einzelnen, Gruppen und Gemeinschaften, die Sozialethik, Politische Ethik und Rechtsethik behandeln Fragen auf der Ebene der Gesellschaft. Ethik lässt sich wie jede Aufklärung auch als Ideologiekritik verstehen. Als theoretische Reflexion auf Kriterien für die Anerkennung von Handlungen als Ausdruck guten Willens fragt Ethik nach (1) den vornormativen (= anthropologischen, natur- oder subjektphilosophischen, sprachanalytischen, theologischen etc.) Voraussetzungen normativ-performativer Sätze sowie im Blick auf die Handlungen selbst nach (2) dem Handlungssubjekt, (3) der Situation, auf die Handlung sich bezieht, (4) den Handlungsgründen (= Prinzipien und Regeln), (5) dem Grad und der Reichweite der Verbindlichkeit der Handlungsgründe, (6), der Methodik der Urteilsbildung im Prozess der Entscheidung für Handlungen.

 

9.1. Wie am Ende der Ausführungen über Moral schon angedeutet, fragt die Ethik insbesondere, welche Moralsysteme universal Geltung beanspruchen können. Die formale kantische Antwort lautet: Jede Moral – Kant verwendet das Wort „Maxime“ im Sinne von Grundeinstellung – ist ethisch vertretbar, die von einem freien Subjekt als allgemeines Gesetz aller freier Subjekte, ja quasi als deren Naturgesetz akzeptiert werden kann. Die inhaltliche Antwort lautet: Ethisch vertretbar ist jede an das Prinzip der Menschenwürde gebundene Handlung: unter Achtung der individuellen Freiheitssphäre und daraus resultierender unbedingter Pflichten und unabwägbarer Rechte aller Menschen. In solchen Handlungen wird jeder Mensch um seiner selbst willen und nie nur als Mittel zum Zweck geachtet. Hier werden also Prinzipien genannt, nach denen Haltungen auf ihren ethischen Gehalt hin beurteilt werden und nicht Listen von Haltungen und Handlungen vorgelegt. Das macht die Sache abstrakt. Anders aber funktioniert Ethik nicht. Immer müssen Ketten und Verknüpfungen von Handlungen, eben komplexe Situationen, Verläufe und Programme auf ihre Zwecke hin befragt werden, und erst auf die richtet sich dann das ethische Urteil, das natürlich sein prüfendes Licht nicht nur auf einen Zweck, sondern auf alle Zwecke, Ziele, Mittel, Wirkungen und Nebenwirkungen und somit alle Elemente und Glieder wirft. Was immer ein ethisch gebotener Zweck fordert, gilt ethisch als verpflichtend. Deshalb spricht Kant von verbindlicher Pflicht anstelle von zufälliger Neigung. Und das für den Menschen als einem freien Vernunftwesen Verpflichtende herauszufinden, ist die Aufgabe der Ethik. Selbst wenn niemand anderes betroffen ist, bin ich ethisch meiner Vernunftnatur verpflichtet. Ist jemand anderes betroffen, bin ich zusätzlich auch seiner Vernunftnatur verpflichtet, und dann tritt zusätzlich zur Moral das Recht zwischen ihn und mich.

 

9.2. Seitdem sich in der Philosophie die vor allem mit den Namen Descartes und Kant verbundene subjektivistische Wende durchgesetzt hat, ist es selbstverständlich geworden, die Prädikate „gut“ und „böse“ im strengen Sinne nur auf einen vernunftgeleiteten Willen anzuwenden. Nur von diesem abgeleitet kann im ethischen Sinne von gerechten oder ungerechten Verhältnissen, leichten oder schweren Sünden, gutem oder schlechten Charakter, feinen oder verrohten Sitten und höflichen oder barbarischen Manieren gesprochen werden. Die Güte oder Bosheit eines Willens wiederum bemisst sich an dem Grad des Respektes vor der Würde des Menschen. Den Willen selbst sieht man nie sozusagen rein für sich, immer sind es eben doch greifbare Handlungen, Gewohnheiten und Verhältnisse, die wir auf einen guten oder bösen Willen zurückführen. Deshalb sind es äußere Merkmale und Indizien, anhand derer wir auf den Willen, die Absicht und den Charakter der handelnden Personen schließen und über sie ein Urteil fällen. Wir fragen erstens nach dem Verfahren, durch das jemand sich überhaupt für eine Handlungsbefugnis legitimiert hat. Nur in einem solchen Verfahren gewinnen wir Gewissheit, jemand sei unbestechlich, vertrauenswürdig und unparteiisch. Das geschieht z.B. durch eine Verabredung, einen Vertrag oder eine freie und geheime Wahl. Ferner fragen wir nach den Anlässen, Gründen und Ursachen seiner Handlungen. Wenn er auf Taten, Mentalitäten und Verhältnisse sensibel reagiert, in denen sich ein Mangel an Respekt vor der Würde des Menschen zeigt, dann führt uns das zu einem positiven ethischen Urteil. Das reicht aber auch noch nicht. Seine Handlungen müssen auch auf eine Stärkung des Respektes vor der Menschenwürde zielen. Und schließlich müssen seine Handlungen sich als für diesen Zweck geeignet, erforderlich und angemessen erweisen. Und von guten und menschenwürdigen Verhältnissen sprechen wir erst, wenn sich ein ganzes Netz von solchen Handlungen zu lebensweltlichen und institutionellen Zusammenhängen fügt.

 

9.3. Was ist nun gut, was ist böse nicht nur im Sinne dieser oder jener partikularen Moral, sondern im verallgemeinerbaren ethischen Sinne? Die Anerkennung der unverlierbaren und unverletzlichen Würde für jeden Menschen ist die erste und grundlegende ethische Voraussetzung für die Vergabe des Prädikates „gut“. Aus dem Prinzip der Menschenwürde folgen die Menschenrechte. Zur Begründung moralischer und rechtlicher Normen verwendet eine universale Ethik des Menschenrechts Prinzipien oder Ideale wie Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden. Die Menschenrechtserklärung von 1948 verkündet, „das höchste Streben des Menschen“ gelte „einer Welt, in der die Menschen Rede- und Glaubensfreiheit und Freiheit von Furcht und Not genießen“. Solche Ideale sind unendliche im Sinne eines „milden Paternalismus“ vorgetragene Optimierungsvorschläge zur Erfüllung universaler sowohl moralischer als auch rechtlicher Ansprüche und insofern vorstaatliche Normen. Das Ideal kann eher begrifflich-logisch als Norm oder bildlich-mythisch als Vorbild und Beispiel vorgestellt werden. Auf der Ebene der regulativen Ideale dient der Begriff „Recht“ als Inbegriff gerechter Bedingungen zum Handeln, und „Pflicht“ dient als Inbegriff um der Gerechtigkeit willen gebotener Handlungen selbst. Beide Begriffe können aber auch ganz gegenständlich auf der Ebene der Erfahrung verwendet werden, dann sind etwa ein konkret verbriefter Rechtstitel oder eine konkret eingegangene Verpflichtung gemeint. Ebenso gehören Begriffe wie „ideelle Güter, „moralische Werte“ und „Tugenden“ einerseits zur Sphäre regulativer Ideale – z.B. Frieden, leibliche Unversehrtheit, Gesundheit und Glück im umfassenden Sinne ideeller Güter –, andererseits meinen wir damit erstrebenswerte Zustände und Arrangements auf der Ebene der messbaren Erfahrung: Hat ein Kind hohes Fieber, dann ist es krank und bleibt zuhause; ist das Fieber weg, ist es gesund und kann zur Schule gehen. Als moralische Werte oder Tugenden bezeichnen wir ideelle Haltungen und Motive wie Barmherzigkeit, Wahrhaftigkeit, Treue und Tapferkeit, die wir zu unseren Maximen erheben, zu denen wir uns erziehen, die wir uns zur Gewohnheit machen und ohne die wir weder Vorsätze noch Versprechen noch Verpflichtungen durchhielten und Rechte auf Dauer nicht respektierten. Alle Begriffe gemeinsam eröffnen und sichern in wechselseitiger Bezugnahme einen ideellen Raum, in dem materielle Interessen und partikulare moralische Überzeugungen verhandelt und in ihrem normativen Rang bestimmt werden können. Es gibt also keinen prinzipiellen Gegensatz zwischen ideellen Normen und materiellen Interessen, denn es ist ethisch nicht verwerflich, Interessen zu haben. Es gibt aber sehr wohl einen Gegensatz zwischen legitimen und illegitimen Interessen, die wir anhand der ethischen Normen unterscheiden können.

 

9.4. Sowohl für die Moral als auch für das Recht gilt: Das Prinzip gilt immer unendlich, die Praxis aber ist immer endlich. Deshalb steuert das Prinzip als regulatives Ideal immer nur die Optimierung der Ausrichtung der Gegenstände der Erfahrung in Richtung auf ihre Idealgestalt. Deshalb gibt es Grade der Annäherung in der Entwicklung von Moral als auch von Recht. Ein Einzelner oder eine Gemeinschaft kann milde und strenge moralische Ansprüche an sich stellen. Eine Rechtsordnung kann aus rudimentären oder aus hoch differenzierten Regeln bestehen. Die Unterscheidung von Moral und Recht bleibt dabei grundlegend, weil niemand seine individuellen und partikularen Moralvorstellungen anderen aufzwingen darf. Vielmehr gewährleistet das Recht, dass sehr unterschiedliche Lebensentwürfe nebeneinander koexistieren. Und es macht einen Unterschied, ob jemand rein für sich handelt oder ob er – in einer etablierten „Rolle“ oder gar einem öffentlichen und durch Gesetz geordneten „Amt“ – mit Rücksicht auf andere, für die oder denen er verantwortlich ist. Und doch stehen Moral und Recht in Wechselwirkung. Der Wille und die Bereitschaft zur quantitativen und qualitativen Ausweitung von Rechtsansprüchen z.B. verdanken sich für sich genommen moralischen Impulsen. Das zeigt sich u.a. in der Asyl- und Flüchtlingspolitik oder bei der Entwicklungs- und Katastrophenhilfe, die dann allerdings als politische Maßnahmen rechtsförmig auszugestalten sind. Gerade dann wird sichtbar, dass jede Inklusion zugleich eine Exklusion ist. Wer es kann, mag dies ertragen, ohne um Vergebung zu bitten und an einen gnädigen Gott zu glauben.

 

9.5. Menschen sind zuweilen moralisch zu schwach, ihre sinnlichen Neigungen den von ihnen erkannten, gewollten und angestrebten ethischen Prinzipien ein- und unterzuordnen. Menschen verhalten sich unlauter, wenn sie äußerlich ethischen Prinzipien folgen, dies aber nur, solange es sich für sie lohnt. Diejenigen handeln perfide, die sich das Vertrauen Anderer durch vorgetäuschte Güte erschleichen, um ihnen umso wirksamer Schaden zuzufügen. Sie handeln verderbt und bösartig, wenn sie ihr Handeln zwar durchgängig an einem von ihnen selbst frei gewählte Maxime ausrichten, sich dabei aber z.B. für einen Egoismus entscheiden, der nicht wie die ethischen Werte widerspruchsfrei verallgemeinerbar ist. Wählte jemand schließlich das Böse um des Bösen willen und um gezielt die Übel dieser Welt zu vermehren, wäre dies ein Teufel. Im innersten Kern also versprechen wir uns mit dem kategorischen Imperativ die Freiheit in wechselseitiger Stellvertretung, ergo auch die Gerechtigkeit. Gut und richtig ist die Einhaltung dieses Versprechens, böse und schlecht ist sein Bruch.

 

9.6. Kann es eine besondere christliche, buddhistische, hinduistische, humanistische, islamische oder jüdische Ethik geben? Versteht man Ethik als eine Wissenschaft, dann gibt es ebenso wenig eine christliche oder buddhistische Ethik wie es eine christliche oder buddhistische Mathematik gibt. Aber dieses oder jenes, z.B. ein christliches Ethos gibt es, es umfasst das aus christlichen Quellen geschöpfte verhaltensbestimmende Orientierungswissen einzelner Christen, christlicher Gruppen und Kirchen. Von daher gibt es doch eine christliche Ethik als Wissenschaft vom christlichen Ethos und seiner Entfaltung und ebenso vom buddhistischen usf.. Wollte Ethik nur deskriptiv untersuchen, welche moralischen Urteile mit welchen Begründungen das Prädikat z.B. „christlich“ erhalten, wäre sie Teil einer religionswissenschaftlichen Erforschung des Christentums. Wenn sie aus Sicht einer bestimmten christlich-theologischen Tradition untersucht, welche moralischen Gesinnungen und Urteile mit welchen Begründungen das Prädikat „christlich“ erhalten oder nicht erhalten sollen und sich darüber hinaus noch der Frage stellt, inwiefern diese Urteile sogar im Sinne einer Menschenrechtsethik allgemeinverbindlich gelten können, dann ist sie christliche Ethik in einem dezidiert theologischen Sinne.[12] Wie nicht anders zu erwarten, behandelt diese ebenfalls alle in diesem Abschnitt genannten Fragen, wie sie in allen wissenschaftlichen Fächern und Disziplinen unter der Rubrik Ethik zur Debatte stehen und beantwortet sie im Sinne und in der Sprache der jeweiligen theologischen Schule. Diese Debatten kreisen seit mehreren Jahrzehnten immer wieder um das Verhältnis von Theorie und Praxis, um Gegenstand, Anlass, Zweck und Aufgabe der Ethik, ihre dogmatischen, insbesondere biblisch-theologischen Voraussetzungen, um das Verhältnis von Partikularität und Universalität und von Interessen und Werten, um die Unterscheidung und Korrespondenz von Sein und Sollen, um die Methoden ethischer Urteilsbildung, insbesondere Sinn und Grenzen von Kasuistiken und um die zentrale Rolle von Begriffen wie Menschenwürde, Freiheit und Gerechtigkeit.[13]

 

9.7. Der Literatur entnehme ich vier Typen ethischer Probleme.[14] Zum ersten Typ gehören mögliche Unklarheiten oder Kontroversen über die in die ethische Urteilsbildung eingeflossenen empirischen Daten. Dies sind keine ethischen Probleme im eigentlichen Sinne, sie sind aber insofern ethisch bedeutsam, als sie überhaupt nur aus ethischen Motiven zur Sprache kommen. Das gilt klassisch z.B. für die Bestimmung des Beginns und des Endes individuellen menschlichen Lebens. Deshalb nenne ich sie hier. Sie werden durch die empirische Analyse und theoretisch-dogmatische Einordnung aufgeklärt und dann bezüglich ihrer politischen, rechtlichen, ethischen und praktischen Konsequenzen gewichtet und entschieden. Einen zweiten Typ stellen mögliche Konflikte zwischen moralischen und außermoralischen Impulsen dar. Auch diese stellen keine ethischen Probleme im engeren Sinne dar, denn die moralische Position als solche steht ja hier nicht infrage. Aber ohne die Unterscheidung zwischen moralisch und unmoralisch gäbe es solche Konflikte gar nicht. Die darin auftretenden Probleme werden durch Prüfung der Absichten aufgeklärt, diese werden ethisch und rechtlich bewertet sowie durch Fördern und Fordern oder auch mit Zwangsmaßnahmen in rechte Bahnen gelenkt. Neben der ethischen Bewertung geht es hier um Beratung, Seelsorge, Therapie und Erziehung sowie um Maßnahmen der Rechtsdurchsetzung. Erst der dritte Typ umfasst die eigentlichen ethischen Probleme: Die Geltung von Prinzipien und Normen kann bestritten werden; dann wird deren Geltung durch überzeugende Argumente bestätigt oder widerlegt. Dramatischer ist die Situation, wenn jemand bei der Anwendung von Prinzipien und Regeln in Zielkonflikte gerät. Im diesem Fall helfen die ethische bzw. rechtliche Güter- und Interessenabwägung mit dem Ergebnis einer Priorisierung („eins nach dem anderen“, „immer abwechselnd“, „per Losentscheid“) oder eines Kompromisses entlang „mittlerer Kriterien“ („nach Bedürftigkeit“, „nach Leistung“, „nach Erfolgsaussichten“) oder einer Kombination aus beidem. Das klingt sehr nüchtern, kann aber, vor allem unter Stress, sehr schwer sein: Die Handelnden müssen sich für ihr spezifisches Handlungsfeld auf die Kriterien einigen, ihre Affekte unter Kontrolle behalten, für die Verteilung der Lasten bewusst Schuld und Haftung übernehmen und mit der begrenzten Reichweite ihrer Möglichkeiten fertig werden. Als vierten Typ nenne ich noch die totalitäre Verführung oder den „Terror der Tugend“, die sich z.B. in der Neuzeit prominent mit dem Namen Robespierre verbinden und zu hypermoralischer Unduldsamkeit und Einschüchterung, zu Doppelmoral, Bigotterie, Totalüberwachung und drakonischen Strafen führen. So werden diese maßlosen Versuche zur Lösung echter oder vermeintlicher ethischer Probleme selbst zum ethischen Problem. Hier wird die menschliche Trägheit ausgenutzt. Es ist leicht, sich dem ersten Eindruck zu ergeben, ein schnelles Urteil zu fällen oder es besser gleich dem autoritären Führer zu überlassen. Und es ist schwer, über das Konkrete hinaus nach dem Allgemeinen, über den Augenblick hinaus nach der Geschichte, über Einzelpersonen hinaus nach Strukturen zu fragen und sich dabei notfalls auch gegen kollektive Affekte zu stellen.

 

9.8. Angewandte Ethik behandelt zum einen Fragen privater Lebensgestaltung, zum anderen solche aus bestimmten gesellschaftspolitisch und öffentlich relevanten Fachgebieten und folgt damit der Ausdifferenzierung moderner Gesellschaften. Fragen der Medizinethik, Wirtschaftsethik, Medienethik, der Ethik in Polizei, Justizwesen und Militär sind deshalb vom Ansatz her sicherlich immer auch als moralische, mehr aber noch als rechtliche Fragen zu bearbeiten. Die Ethik ist dort viel mehr in die institutionellen Rahmungen eingeschrieben als dann sicherlich auch in den professionellen Rollen und den persönlichen Einstellungen verankert. Die genannten Bereichsethiken entwickeln zudem auf der Grundlage der allgemeinen ethischen Grundbegriffe jeweils spezifische „mittlere Prinzipien“: In der Medizinethik sprechen wir z.B. vom Wohl und von der Gesundheit der Patienten, in der Wirtschaftsethik von den lebensdienlichen Gütern möglichst für alle Mitglieder einer wohlgeordneten Gesellschaft, in der Friedensethik vom Schutz vor Gewalt und von der gemeinsamen Sicherheit von Konfliktgegnern.

Fragen angewandter Ethik lassen sich gut nach einem bewährten, allgemeinen, ethisch-methodischen Stufenmodell analysieren: (1) Wahrnehmung, Annahme und Bestimmung eines Sachverhaltes als ethisches Problem: Uns erscheint etwas als unmoralisch und ungerecht; (2) Situationsanalyse: Wir untersuchen den Fall möglichst umfassend; (3) Beurteilung von Verhaltensoptionen: Wir fragen uns, was die infrage kommenden Akteure alles tun könnten und wer von ihnen nun was tun sollte; (4) Prüfung von Prinzipien und Handlungsregeln: Wir besinnen uns auf ethische Grundsätze – Ideale, Prinzipien, Maximen, Pflichten, Normen, Werte, Güter, Regeln – und wählen danach die einen Verhaltensoptionen und verwerfen andere; (5) Prüfung der sittlich-kommunikativen Verbindlichkeit von Verhaltensoptionen: Wir fragen uns, wen wir bis zu welchem Grad mit unseren Vorschlägen und Argumenten überzeugen können; (6) Urteilsentscheid: Wir entscheiden uns, sammeln unsere Kräfte und schreiten zur Tat.[15]

In der Alltagssprache werden „moralisch“ und „ethisch“ übrigens oft synonym gebraucht, denn „ethisch“ kann man auch von „Ethos“ im Sinne einer starken moralischen Überzeugung statt von „Ethik“ ableiten. Und Ethik ist oftmals Moral mit wissenschaftlicher Begründung. Dabei wird dann aber der Bezug der Ethik zum Recht unzulässig vernachlässigt.

 

9.9. Gelegentlich trifft man auch auf die begriffliche Unterscheidung von (1) „deontologischer“ Prinzipien- oder Gesinnungsethik und (2) „konsequentialistischer“ oder „teleologischer“ Folgen- oder Verantwortungsethik, die beide darauf ausgerichtet sind, vorzugswürdige Handlungen zu definieren, im ersten Fall eher an den Gründen, im zweiten Fall als (3) Güterlehre mehr an den Zwecken von Handlungen orientiert. Die (4) Tugend- oder Werteethik dagegen betrachtet weniger die Handlungen, sondern benennt die zugrundeliegenden Einstellungen und Motive.[16] Hinter all diesen „Ethiken“ kann eigentlich immer nur eine in sich konsistente und integrative Ethik stehen, die alle Perspektiven zu einem möglichst einheitlichen theoretischen Zusammenhang verknüpft: Unter dem Begriff der Pflicht werden akteursbezogen die allgemeinen und grundlegenden regulativen Ideen, Prinzipien und Maximen behandelt. Ist vom Guten und von den Gütern die Rede, dann treten die an den Ideen, Prinzipien und Normen auszurichtenden und aus ihnen folgenden konkreten und historisch gewachsenen gesellschaftlichen Verhältnisse, Gemeinschaften und Institutionen in den Blick, die wiederum nur von Menschen gebildet und mit Leben gefüllt werden können, die sich die entsprechenden ebenfalls konkreten Tugenden auferlegen und einüben. Und weder die abstrakten Ideen noch die konkreten Verhältnisse und Mentalitäten fallen vom Himmel, sie prägen sich vielmehr im Strom der Zivilisationsprozesse wechselseitig. Und eine Ethik ist erst dann vollständig, wenn sie zu allen Aspekten etwas zu sagen hat.

 

[1]    Vgl. Siedschlag, Alexander (2001, Hrsg.): Realistische Perspektiven internationaler Politik, Opladen.

[2]    Vgl. Schimmelfennig, Frank (20102) Internationale Politik, Paderborn.

[3]    Vgl. Wendt, Alexander (1999): Social Theory of International Politics, Cambridge MA; Schieder, Siegfried / Spindler, Manuela (20062, Hrsg.): Theorien der internationalen Beziehungen. Opladen; vgl. zur Politischen Philosophie ferner Höffe, Otfried (1999): Demokratie im Zeitalter der Globalisierung, München; Meier, Heinrich (2000): Warum Politische Philosophie?, Stuttgart; Ottmann, Henning (2001 - 2012): Geschichte des politischen Denkens. Von den Anfängen bei den Griechen bis auf unsere Zeit. Band 1 bis 4/2, Stuttgart; Maier, Hans / Denzer, Horst (20012, Hrsg.), Klassiker des politischen Denkens, 2 Bde., München; Castoriadis, Cornelius (2002): Gesellschaft als imaginäre Institution. Entwurf einer politischen Philosophie, Frankfurt; Horn, Christoph (2003): Einführung in die politische Philosophie, Darmstadt; Voigt, Rüdiger / Weiß, Ulrich (2003, Hrsg.): Handbuch Staatsdenker, Stuttgart; Zippelius, Reinhold (200310): Geschichte der Staatsideen, München; Brodocz, Andre / Schaal, Gary S. (20062, Hrsg.): Politische Theorien der Gegenwart. 2 Bände, Opladen; Ladwig, Bernd (2009): Moderne politische Theorie. Fünfzehn Vorlesungen zur Einführung; Oberndörfer, Dieter / Rosenzweig, Beate (2000, Hrsg.): Klassische Staatsphilosophie. Texte und Einführungen, München; zur aktuellen Konjunktur des Populismus vgl. Priester, Karin (2007): Populismus. Historische und aktuelle Erscheinungsformen, Frankfurt M. / New York; dies. (2012): Rechter und linker Populismus. Annäherung an ein Chamäleon, Frankfurt M.; Wielenga, Friso / Hartleb, Florian (2011, Hrsg.): Populismus in der modernen Demokratie. Die Niederlande und Deutschland im Vergleich. Münster; Mișcoiu, Sergiu (2012): Au pouvoir par le Peuple! Le populisme saisi par la théorie du discours, Paris; Mudde, Cas / Kaltwasser, Cristóbal Rovira (2012): Populism in Europe and the Americas. Threat or Corrective for Democracy?, New York NY; Hartleb, Florian (2014): Internationaler Populismus als Konzept. Zwischen Kommunikationsstil und fester Ideologie, Baden-Baden; de la Torre, Carlos (2015, Hrsg.): The Promise and Perils of Populism. Global Perspectives, Lexington KY.

[4]    Vgl. Richter, Dirk (2005): Das Scheitern der Biologisierung der Soziologie. Zum Stand der Diskussion um die Soziobiologie und anderer evolutionstheoretischer Ansätze, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 57/2005/3, 523–542; Voland, Eckart (2007): Die Natur des Menschen. Grundkurs Soziobiologie, München; ders. (2009): Soziobiologie. Die Evolution von Kooperation und Konkurrenz, Heidelberg; Stegbauer, Christian (20112): Reziprozität: Einführung in soziale Formen der Gegenseitigkeit, Wiesbaden; Wilson, Edward O. (2013): Die soziale Eroberung der Erde, München.

[5]    Vgl. Zerfaß, Rolf (1998): Spirituelle Ressourcen einer neuen pastoralen Kultur: Wirklichkeitserschließung als Befreiung, in Gabriel, Karl et al. (1998, Hrsg.), Zukunftsfähigkeit der Theologie, Paderborn, 113-127.

[6]    Vgl. Combe, A., Helsper, W. (1996, Hrsg.): Pädagogische Professionalität. Untersuchungen zum Typus pädagogischen Handelns, Frankfurt; Oelkers, Jürgen (20054): Reformpädagogik – eine kritische Dogmengeschichte, Weinheim, München.

[7]    Vgl. Biller-Andorno, Nikola (2001): Gerechtigkeit und Fürsorge. Zur Möglichkeit einer integrativen Medizinethik (Kultur der Medizin. Geschichte - Theorie - Ethik, Bd. 2), Frankfurt M.

[8]    Vgl. Ulrich, Peter (20084): Integrative Wirtschaftsethik, Bern.

[9]    Vgl. Behr Rafael (20082): Cop Culture - Der Alltag des Gewaltmonopols: Männlichkeit, Handlungsmuster und Kultur in der Polizei, Wiesbaden; ders. (2012): Polizeikultur. Routinen - Rituale - Reflexionen, Bausteine zu einer Theorie der Praxis der Polizei, Wiesbaden.

[10]   Vgl. Apelt, Maja (2010, Hrsg.): Forschungsthema: Militär. Militärische Organisationen im Spannungsfeld von Krieg, Gesellschaft und soldatischen Subjekten, Wiesbaden.

[11]   Vgl. zur Rechtsphilosophie: Geismann, Georg (1974): Ethik und Herrschaftsordnung. Ein Beitrag zum Problem der Legitimation, Tübingen; Smid, Stefan (1991): Einführung in die Philosophie des Rechts, München; Coing, Helmut (19935): Grundzüge der Rechtsphilosophie, Berlin; Zippelius, Reinhold (20075): Rechtsphilosophie, München; Zenkert, Georg (2004): Die Konstitution der Macht. Kompetenz, Ordnung und Integration in der politischen Verfassung, Tübingen; Braun, Johann (2006): Einführung in die Rechtsphilosophie. Der Gedanke des Rechts, Tübingen; Hoerster, Norbert (2006): Was ist Recht? Grundfragen der Rechtsphilosophie, München; Hofmann, Hasso (20063): Einführung in die Rechts- und Staatsphilosophie, Darmstadt; Seelmann, Kurt (20074): Rechtsphilosophie, München; Hankel, Gerd (2008, Hrsg.): Die Macht und das Recht. Beiträge zum Völkerrecht und Völkerstrafrecht am Beginn des 21. Jahrhunderts, Hamburg; Schwalbach T.; Kaufmann, Arthur /Hassemer, Winfried / Neumann, Ulfrid (20108, Hrsg.): Einführung in Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegenwart, München; Dreier, Ralf / Paulson, Stanley L. (20113, Hrsg.): Gustav Radbruch, Rechtsphilosophie (Studienausgabe), Heidelberg; zum Verhältnis Menschenwürde und Menschenrecht vgl. Rothhaar, Markus (2015): Die Menschenwürde als Prinzip des Rechts. Eine rechtsphilosophische Rekonstruktion, Tübingen, dort weitere Literatur.

[12]   Vgl. Reuter, Hans-Richard (2015): Grundlagen und Methoden der Ethik, in: Huber, Wolfgang / Meireis, Torsten / Reuter, Hans-Richard (2015, Hrsg.): Handbuch evangelischer Ethik, München, 9-124, 20-24, 45-93.

[13]   Vgl. Ulrich, Hans Georg (1990, Hrsg.): Evangelische Ethik. Diskussionsbeiträge zu ihrer Grundlegung und ihren Aufgaben, München; Schöpsdau, Walter (2012): Grundfragen christlicher Ethik. Theologische Begründung und moralische Urteilsbildung in neueren Publikationen, in: Materialdienst des Konfessionskundlichen Instituts Bensheim 63/2012/4, 63-68.

[14]   Vgl. Reuter, Hans-Richard (2015): Grundlagen und Methoden der Ethik, in: Huber, Wolfgang / Meireis, Torsten / Reuter, Hans-Richard (2015, Hrsg.): Handbuch evangelischer Ethik, München, 9-124, 101-112.

[15]   Vgl. Tödt, Heinz Eduard (1990): Versuch einer ethischen Theorie sittlicher Urteilsfindung, in: Ulrich, Hans Georg (1990, Hrsg.): Evangelische Ethik. Diskussionsbeiträge zu ihrer Grundlegung und ihren Aufgaben, München, 295-323.; Haspel, Michael (2011): Sozialethik in der globalen Gesellschaft. Grundlagen und Orientierung aus protestantischer Perspektive, Stuttgart, 115-120.

[16]   Vgl. Reuter, Hans-Richard (2015): Grundlagen und Methoden der Ethik, in: Huber, Wolfgang / Meireis, Torsten / Reuter, Hans-Richard (2015, Hrsg.): Handbuch evangelischer Ethik, München, 9-124, 24-44.