Hartwig von Schubert

Hamburg 2016

www.protestantacademy.eu

 

 

 

Wie kann Politik vernünftig sein?

 

 

1. Zum Begriff „Politik“

 

Das Wohlstandsgefälle zwischen den reifen Industrienationen und den übrigen Gesellschaften dieser Erde hat seit Jahrzehnten ein skandalöses Ausmaß. Wenn die Rede von Menschenrechten einen politischen Sinn machen soll, dann müssen die Institutionen, die allein diese Rechte garantieren können, nämlich die Staaten, ihrerseits auf ein gemeinsames Recht gegründet werden, auf eine Art „Menschenrecht der Staaten“, auch sie bedürfen analog zu Individuen des Respekts, des Schutzes und der Daseinsvorsorge. Im Folgenden werden drei Fragen erörtert: Lässt sich am Leitfaden der Schrift Immanuel Kants „Vom ewigen Frieden“ und seiner Rechtsdefinition in der Metaphysik der Sitten eine vollständige Theorie des Politischen entwickeln, die nicht nur Staaten, sondern auch Staatengemeinschaften Orientierung bieten kann? Zweitens: Ist ein minimaler Begriff des Politischen im globalen Maßstab nicht überhaupt erst dann erreicht, wenn wenigstens der Staatenkrieg überwunden wird? Und gehört dazu nicht auch ein Konsens, dass nicht auch nur ein einziger Mensch aus dem bürgerlichen Zustand ausgeschlossen, sich selbst überlassen und rohen Gewalten ausgeliefert bleiben darf? Und drittens: Lässt sich vielleicht am Projekt der Europäischen Union studieren, wie wenigstens halbkontinentale Räume nachhaltig politisch stabil geordnet werden können, ohne dafür ihre Komplexität und Heterogenität zu opfern?

 

Niemals in der Geschichte der Menschheit konnte eine Gesellschaft einer so ungeheuer großen Zahl von Individuen über einen Zeitraum von inzwischen über einem Jahrhundert einen derart breiten Massenwohlstand bieten wie die heutige Zivilisation im Stabilitätsraum der westlich geprägten Moderne. Dieser Raum umfasst inzwischen jenes nordwestliche Viertel der Welt, das sich von Alaska bis Estland und vom Nordpol bis zu Karibik und Mittelmeer erstreckt. Und dieser Wohlstand ist nicht einfach nur materieller Natur, die Menschen leben einigermaßen in Frieden miteinander, sie lösen ihre Konflikte in dem weiten Spielraum ihrer parlamentarischen Demokratien, sie halten sich überwiegend an die Gesetze und fügen sich einer geordneten Rechtsprechung. Männer und Frauen sind auf dem Wege zur Gleichberechtigung, es herrscht eine nie zuvor erlebte Freiheit des Wortes, selbst Gegensätze zwischen Kultur und Natur können innerhalb dieses Stabilitätsraums ökologisch immer wieder miteinander versöhnt werden. Und wer zurückblickt auf die Jahrzehnte des Kalten Krieges, kann nur staunen, dass es nach dem Fall der Mauer tatsächlich gelang, die bis zur nuklearen Totalvernichtung eskalierte Feindschaft zwischen einer kapitalistisch und einer kommunistisch orientierten Gesellschaftsordnung in nur wenigen Jahren aus der Welt zu schaffen. Und selbst die nach wie vor regelmäßig anschwellenden Krisen regionaler Volkswirtschaften oder gar der Weltfinanzen treffen auf politische Mechanismen, die bisher robust genug sind, sogar diese anarchischen Entwicklungen in geordnete Bahnen zu lenken. Die ca. 20 hoch entwickelten unter den ca. 200 Staaten der Erde haben sich internationale Systeme geschaffen, die man sich in vergangenen Epochen nur als Frucht militärischer Siege vorstellen konnte. Der gesamte nordatlantische Kernraum der globalen Moderne ist damit sicherlich kein Paradies geworden, wohl aber ein politisch vergleichsweise stabiler Raum mit hoher Anziehungskraft auf den Rest der Weltbevölkerung. Ist also der Westen das Modell einer künftigen Weltzivilisation?

 

Niemals in der Geschichte der Menschheit hat eine Zivilisation eine so ungeheuer großen Zahl von Individuen über einen Zeitraum von inzwischen ebenfalls über ein Jahrhundert hinweg in eine derart breite Massenverelendung geführt wie die Moderne die Menschen außerhalb des Stabilitätsraums in den übrigen Dreivierteln der Welt. Dort stieg die Zahl der hungernden Menschen in den letzten Jahren deutlich an, wenngleich auch langsamer als die Weltbevölkerung insgesamt: 1990 waren es etwa 822 Millionen, im Jahr 2008 etwa 963 Millionen Menschen. Im Juni 2009 berichtete die BBC erstmalig, offiziell hungerten eine Milliarde Menschen, also etwa jeder siebente Mensch auf der Erde.[1] Und nach der Diskussion um die begrenzten Rohstoff- und fossilen Energiereserven und die Umweltzerstörung durch Industrieemissionen, Bodenerosion, Waldsterben, Verschmutzung und Überfischung der Weltmeere seit den sechziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts beherrscht seit der ersten Weltklimakonferenz im Jahr 1979 zunehmend der Klimawandel im Zuge der Erderwärmung das ökologische Bewusstsein der Weltgesellschaft. Es besteht unter den 194 Mitgliedstaaten der Klimarahmenkonvention der Vereinten Nationen ein Konsens, dass Szenarien jenseits der globalen Zwei-Grad-Steigerung im Verhältnis zum vorindustriellen Zeitalter schlechterdings unvorstellbar und deshalb inakzeptabel sind.

 

Die Unterscheidung in das prosperierende nordwestliche Viertel der Welt und das darbende übrige Dreiviertel ist sicherlich eine überaus grobe Vereinfachung, denn es gibt jede der beiden Welten jeweils auch innerhalb der anderen, es gibt fließende Übergänge, vielfältige Stufen und Schwellen zwischen den beiden. Die grobe Skizze soll nur zweierlei veranschaulichen, zum einen die Spannung zwischen dem in seinen Extremen wirklich historisch so bisher nie dagewesenen Entwicklungsgefälle zwischen den Regionen, Kulturen und Schichten der einen zusammenwachsenden Weltgesellschaft sowie zum anderen die Dramatik ihrer möglichen Verschärfung oder Entladung. Denn wie dramatisch werden sich die Märkte für Nahrung und Energie in 20 Jahren, wie werden sie sich in 50 Jahren entwickeln? Wo schwelt der Kampf um Ressourcen bereits und droht erneut in Kriege umzuschlagen? Wird die moderne Staatenwelt der Flut asymmetrischer Konflikte aus den instabilen Zonen standhalten können, wird sie ihre eigenen inneren Widersprüche versöhnen können? Wie ist insbesondere die Konzentration auf den Nahen Osten als Hauptenergielieferant der Erde zu werten, gilt diese Region doch als die am höchsten militarisierte der Welt? Wie werden die traditionellen Industrienationen mit ihrer demographischen Überalterung fertig werden? Und warum sollen sich die alten Industrienationen in ihren Ansprüchen mäßigen, wenn sich die aufstrebenden Wirtschaftsräume dann nur umso ungehinderter ausbreiten und an den knappen Ressourcen bedienen? Und was nützt ein qualitatives Wachstum, dessen Ertrag durch neuerlich quantitatives Wachstum sofort wieder aufgezehrt wird? Wird die Menschheit die anstehenden Jahrtausendkonflikte mit zivilen, d.h. vertraglichen und diplomatischen Mitteln austragen oder mit Gewalt?[2] Glaubt ernsthaft irgendjemand, diese oder jene sozial- oder finanzkosmetische Maßnahme könne ausreichen, um die Krisen und Spannungen des kommenden Jahrhunderts zu bewältigen? Werden die stabilen Zonen die instabilen Zonen entwickeln? Oder wachsen die instabilen in die stabilen Zonen hinein?

 

In einigen Teilen der Welt gewährleistet der demokratische Rechtsstaat seinen Bürgern weitgehend vernünftige und gerechte Verhältnisse. Obwohl es so über aus dringlich erscheint, fehlt jedoch bis auf den heutigen Tag sowohl in der politischen Praxis als auch in der Theorie ein Konzept für die zwischen- und überstaatliche politische Gerechtigkeit. Und das wirkt natürlich auf die Staaten und ihre Bürger zurück. Denn wenn einige reiche Industriegesellschaften wie Luxusdampfer durch ein Meer des Elends treiben, können die Passagiere nicht wirklich glücklich und zufrieden sein. Sie können sich auch nicht sicher fühlen. Solche Verhältnisse kann man nicht vernünftig nennen, für die an Armut und Gewalt gefesselten Gesellschaften ohnehin nicht, aber auch nicht für die, die in Frieden und Wohlstand leben.

 

Es war der späte Kant, der 1795, also bereits vor über 200 Jahren, mit seiner Schrift „Zum ewigen Frieden“ einen epochalen, weil vollständigen und umfassenden Aufriss politischer Theorie und damit auch politischer Ethik lieferte.[3] Nicht nur die Beziehungen in den Staaten, sondern auch zwischen ihnen sollen auf ein gemeinsames Recht gegründet werden. Stellte die „Kritik der reinen Vernunft“ einen völlig neuen Rahmen für Theoriebildungen überhaupt, so die verschaffte die Schrift „Zum ewigen Frieden“ nicht nur dem Völkerrecht, sondern dem Begriff des Politischen überhaupt eine vollkommen neue Grundlage. An die Stelle des klassischen Kriegsvölkerrechts trat ein Friedensvölkerrecht, welches der unter der Charta der Vereinten Nationen versammelten Staatengemeinschaft bis heute als idealtypisches Vorbild dienen kann.

 

Das eine Menschenrecht gliedert sich bei Kant in:

 

 (1) das Bürgerrecht (Verhältnis Bürger – Staat) zur Bestimmung des Verhältnisses der Rechtsbürger zueinander und zur Gesamtheit ihrer Rechtsgemeinschaft und insofern als Grundlage der individuellen Staatsangehörigkeit und der inneren Volkssouveränität,

 

 (2) das Völkerrecht (Verhältnis Staat – Staat) zur Bestimmung des Verhältnisses von Rechtsgemeinschaften zueinander und insofern als Grundlage äußerer Staatensouveränität und des zwischenstaatlichen Gewaltverbots,

 

 (3) das Weltbürgerrecht (Bürger – Staatengemeinschaft) zur Bestimmung des Verhältnisses von Menschen außerhalb aller privat oder staatlich gesicherten Rechtsverhältnisse, dessen Garanten die Staaten sind, die sich verpflichten, Nicht-Staatsbürgern Gast- oder Fremdenrecht zu gewähren.

 

Verweigert ein Staat einem Menschen oder einem anderen Staat eine dieser Rechtsstellungen, ist er im Vollsinn noch nicht politisch. Den Mangel kann man ethisch erlauben, weil auch Staaten Zeit brauchen, um zu reifen. Da Kant kein weltfremder Idealist ist, erörtert er im Anhang seiner Schrift die Frage, wie Politik sowohl praktisch als auch vernünftig werden kann. Und der literarisch versierte Philosoph setzt das Ganze nicht nur in Form eines Friedensvertrages auf – mit sechs einleitenden und drei abschließenden Artikeln, zwei Zusätzen und einem zweiteiligen Anhang –, so dass der Leser sich ermutigt fühlt, gleich zur Tat zu schreiten und den Vertrag ins Werk zu setzen. Er fügt mit dem zweiten Zusatz ein „Geheimprotokoll“ ein, in dem er sich entschieden gegen Geheimprotokolle und für öffentliche Transparenz ausspricht. Politik ist öffentlich oder sie ist nicht Politik. Ebenfalls im „Geheimartikel“ nimmt Kant Platons Gedanken des Philosophenkönigtums auf: Die Philosophie erhebt keinen Anspruch auf Anerkennung als öffentliche Gewalt. Das aber hindert den Philosophen wie jeden anderen Bürger nicht daran, sich das freie und kritische Urteil der Vernunft zuzutrauen. Mündige Bürgerphilosophen kennen sich mit den Prinzipien der Vernunft – also auch mit den individualethischen und rechtsethischen Grundsätzen gerechten menschlichen Zusammenlebens – vielleicht besser aus als andere, bei ihrer konkreten Anwendung aber haben selbst sie anderen wachen Zeitgenossen nichts voraus, stehen ihnen aber auch nicht nach.

 

Mit seinem Aufriss deckt der Königsberger Philosoph fünf bis heute aktuelle Themenfelder ab: (1) In den sechs Präliminarartikeln hebt er den politischen Frieden über den befristeten Waffenstillstand hinaus auf die Ebene einer prinzipiell unbefristeten – „ewigen“ – Institution und Rechtsfigur, gegen die einige Rechtsverletzungen umgehend einzustellen sind, andere nach einer angemessen konzedierten Fristverlängerung. Mit der Unterscheidung zwischen „strikt, unbedingt, sofort und ausnahmslos verboten“, „grundsätzlich verboten“ und „provisorisch geduldet“ erweist sich Kant als politischer Realist mit Augenmaß. (2) In den drei Definitivartikeln entwirft er die beschriebene dreiteilige Theorie einer öffentlichen Friedensordnung als Rechtsordnung. (3) Der erste Zusatz liefert mit einer „Naturtheorie“, heute würde man wohl sagen: mit einer sozialsystemisch-teleologischen Skizze, Perspektiven für die zeitgeschichtliche Realisierung friedenspolitischer Projekte. (4) Der zweite „geheime“ Zusatz thematisiert, wie bereits erwähnt, das Verhältnis von „Geist“ und „Macht“, „Idee“ und „Wirklichkeit“, „Theorie“ und „Praxis“. (5) Der zweiteilige Anhang zeigt, dass ein politischer Amoralismus nicht per se „praktischer“ ist als ein rechtsethisch reflektierter politischer Moralismus, er mag zuweilen „schlau“ sein, aber gelangt so nicht zur vollen Reife des Politischen. Wer sich die Menschheit als Polis denkt, kann nicht wollen, dass ihre Staaten im Naturzustand dahinvegetieren, denn kein Staat kann sich in einem Krieg jedes gegen jeden vor dem anderen sicher fühlen. Er kann auch nicht wollen, dass auch nur ein einziger Mensch aus dem bürgerlichen Zustand ausgeschlossen, sich selbst überlassen und rohen Gewalten ausgeliefert bleibt, kann das doch jederzeit auch ihn selbst treffen.

 

Die Kräfte der Unvernunft und der Gegenvernunft mögen stark sein, die Realisierungschancen politischer Vernunft sind es aber auch. Ein ehrlicher und schlichter sozialer Frieden ist schon Utopie genug, aber unrealistisch ist er nicht. Diese Botschaft wird durch Kant’s rechtspazifistische Vision friedlicher Verhältnisse, die dieses Prädikat auch verdienen, in die Welt getragen. Und diese Botschaft ist nicht nur schon seit Jahrhunderten unterwegs, sondern soll und kann auch die Zukunft gestalten. Es hat sich herumgesprochen, dass zur Durchsetzung ethischer Prinzipien und Rechte Staaten eingerichtet werden müssen, die erst in dem Maße zu Blüte, Stand und Wesen kommen, in dem Gewalten durch Recht begrenzt und Konflikte gewaltfrei ausgetragen werden. Die nächste Stufe ist dann der Staatenstaat, die freie Republik aus freien Republiken. Sobald sich die Staaten auf Institutionen einigen, die ihnen ermöglichen, ihre Interessenkonflikte gewaltfrei auszutragen, verdient dieses Stadium den Titel des politischen Friedens, vorher nicht.

 

 

2. Zum Begriff des Rechts

 

Das Projekt einer internationalen Rechtsordnung als Friedensordnung gründet auf einer ganz spezifischen Definition von Recht. Erinnert und ermahnt Kants Individualethik zunächst nur den einzelnen Menschen in seiner Gemeinschaft daran, im Sinne seiner Vernunftnatur zu handeln und sich selbst treu zu bleiben, so hilft die politische Ethik einer ganzen Gesellschaft von Menschen zu klären, wie sie ihr Zusammenleben vernünftig gestalten, was ihnen also gemeinsam sinnvoll und erstrebenswert erscheint in Feldern wie Bildung, Gesundheit, Verkehr, Wirtschaft, Sicherheit. Im Medium des zwangsbewehrten Rechtes schließlich legen Gesellschaften umfassend in Staatsverfassungen und in jedem der genannten Bereiche gesondert die Grenzen ihrer äußeren Freiheit fest: im Öffentlichen Recht, im Strafrecht und im Privatrecht. Postuliert die Ethik einschließlich der Politischen Ethik mit dem Begriff des guten Willens die innere Freiheit eines Vernunftwesens, sich selbst ein Gesetz zu geben, welches mit seiner und der Freiheit aller anderen Vernunftwesen übereinstimmt, so ist für das äußere Zusammenleben vieler Vernunftwesen ein ebenfalls erfahrungsunabhängiger, rein rationaler Begriff zu finden, der eine äußere Freiheit in Gemeinschaft ermöglicht, und das ist das Recht. Es ist

 

„der Inbegriff der Bedingungen unter denen die Willkür des einen mit der Willkür des anderen nach einem allgemeinen Gesetze der Freiheit zusammen vereinigt werden kann“.

(Metaphysik der Sitten von 1797 / 1798 (AA VI, 230 = RL § B)

 

Bewusst ist hier von Willkür die Rede und nicht von Freiheit. Es geht nicht um den Willen, sofern er sich über Neigungen, Triebe oder Bevormundung zu autonomer Selbstgesetzgebung und loyalem Engagement erhebt. Es geht nur um die Freiheit, tun oder lassen zu können, was man will, warum auch immer. Nicht die innere Freiheit des Willens, sondern die äußere Freiheit des Handelns bestimmt den rechtlichen Rahmen, in dem sich freilich auch die innere Freiheit, auch die freilich äußerlich nur als „Willkür“ erkennbar, wirksam entfalten kann. Die äußeren Rechtsverhältnisse können also vernünftigerweise nicht beliebig gestaltet werden, sondern finden ihre Legitimation in ihrer Entsprechung zur Freiheitsnatur des Menschen; sie begründen diese zwar nicht in ihrem Kern, aber sie ermöglichen, sichern und begrenzen ihre Anwendung im Rahmen gleicher Willkürfreiheit.

Im Recht werden zwar nicht Maximen, wohl aber Klassen von äußerlich identifizierbaren Handlungen voneinander unterschieden: Besitzansprüche vom Diebstahl, Vertragstreue vom Betrug, Wahrung körperlicher Unversehrtheit von Tötungshandlungen etc.. Und es wird geklärt, dass und inwiefern es diesbezüglich Sphären individueller Willkürfreiheit gibt und dass und inwiefern diese durch ein gemeinsames und gleiches Maß an Willkürfreiheit begrenzt werden: Wollte eine Rechtsgemeinschaft Willkürfreiheit unbeschränkt freistellen, könnten die jeweils Stärkeren diese umgehend zulasten der jeweils Schwächeren ausüben und deren Willkürfreiheit schmälern. Will die Rechtsgemeinschaft weder eine totale noch gar keine Handlungsfreiheit gewähren, so muss sie nur allen ihren Mitgliedern die gleiche Handlungsfreiheit einräumen. Und eben dies leistet laut Kant nicht nur für die Sittlichkeit, sondern auch für die Rechtsidee der Begriff der Menschenwürde als Garant gleicher äußerer Handlungsfreiheit aller vernünftigen Subjekte unter einem gemeinsamen Gesetz. Da die Rechtsidee aber nicht auf der Anerkennung durch das moralische Individuum, sondern auf der Anerkennung durch die Rechtsgemeinschaft gründet, ist es legitim, wenn diese auch diejenigen dem Recht unterwirft, die auch nur einem Rechtsgenossen die Anerkennung als autonomes Rechtssubjekt de facto verweigern, indem sie sein Recht brechen. Da es kein Recht auf Rechtsbruch gibt, brechen die Abwehr und Sühne des Rechtsbruchs ihrerseits kein Recht.

 

Die Unterscheidung zwischen der inneren Freiheit des Willens und der äußeren Freiheit des Handelns ist auch deshalb so bedeutsam, weil laut Kant nur die Sicherung der äußeren Freiheit des Handelns einen ausreichenden Grund für eine allgemeine Befehls- und Zwangsbefugnis und somit für die Legitimation von Herrschaft in Gestalt eines Staates liefert. Auch wenn es immer wieder behauptet wird: Die Sicherung der sittlichen Selbstgesetzgebung – auch die einer kollektiv breit anerkannten Religion oder einer leidenschaftlich erkämpften Nation – trägt zur Legitimation von Herrschaft nichts bei, sie bedarf ihrer nicht und hat dort nichts verloren. Nur die Sicherung der äußeren Freiheit liefert das allgemeinverbindliche Prinzip für die Legitimation der Herrschaftsordnung in Gestalt einer Staatsverfassung. Kant nimmt damit eine Unterscheidung aus der protestantischen Tradition auf, wie sie Luther mit der Differenzierung zwischen geistlichem und weltlichem Regiment entwickelt hat und Hugo Grotius mit der These von der Geltung des Völkerrechts etsi deus non daretur. Um es am Beispiel Luthers nur kurz anzudeuten: Die Freiheit, von der hier die Rede ist, ist nicht die Freiheit auserwählter Privilegierter, sondern die aller Menschen. Luther entwickelt das am status christianus:

 

„Ein Christenmensch ist ein freier Herr über alle Dinge und niemand untertan.

Ein Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht aller Dinge und jedermann untertan.“

"Von der Freiheit eines Christenmenschen" von 1520[4]

 

Jeder Christ nimmt sich in seinem Glauben und in seiner geistlichen Lebenspraxis die volle und ungeteilte Freiheit, sich nur vor seinem Gott und vor niemand sonst zu verantworten. Im analogen Sinne ist auch jeder Angehörige einer anderen Religion, Konfession und Weltanschauung frei, seinen Glauben und seine aus diesem begründeten Entscheidungen im Blick auf sich selbst über alles zu setzen. Derselbe Christ schuldet aber gegebenenfalls jedermann voll und ungeteilt Rechenschaft über alle Konsequenzen seines Urteilens und Handelns, die Andere und den Rest der Welt betreffen. Alle anderen allerdings schulden auch ihm diese Rechenschaft, also auch die Angehörigen einer anderen Religion, Konfession und Weltanschauung. Säkularität in diesem Sinne ist also nicht die Verbannung religiöser Leidenschaft aus der Öffentlichkeit, sondern ihre Integration in den Rahmen eines für alle geltenden Rechts. Seit den jahrhundertelangen leidvollen Erfahrungen mit Absolutismus, Totalitarismus und erneut mit religiös aufgeladenem Terror wissen wir heute, dass die geistige Freiheit nur dann auch politisch werden kann, wenn das Recht jedes Menschen geachtet wird. Das beginnt mit dem Recht, überhaupt Rechte zu haben. 

Was ist also der vernünftige Grund, Herrschaft zu wollen, und wie lautet das Prinzip einer vernünftigen Herrschaftsordnung? Herrschaft und Herrschaftsordnung sind nicht schon aufgrund ihrer schieren Existenz legitim, auch nicht aufgrund einer breiten Anerkennung durch loyale Bürger, und auch nicht schon, sofern sie eine gesetzliche Form angenommen haben, auch nicht deshalb, weil und sofern sie einer bestimmten vorgegebenen natürlichen oder offenbarten Ordnung dienen und auch deshalb nicht, weil sie für Ruhe und Ordnung und ein Minimum an Gewalt sorgen. Denn stets hinge so die Freiheit von zufälligen und fremden Ansichten ab. Und ganz und gar nicht wird Herrschaft dadurch legitimiert, dass sie der inneren Freiheit des Willens Geltung und Raum verschaffe. Denn zum einen richtet die Ethik ihre Vorschläge an souveräne Selbstgesetzgeber und nicht an Diener eines objektiv herrschenden und positivrechtlichen Wertekanons. Ferner lässt sie sich bei Wahl ihrer Maximen durch herrschaftlichen Zwang nicht beeindrucken, weder lässt sie sich dadurch unterstützen noch behindern. Wollte sich die Ethik mit Gewalt statt mit Argumenten Gehör verschaffen, wäre dem Terror der Tugend Tor und Tür geöffnet. Deshalb darf das Recht nicht in Anspruch genommen werden, um die innere Gesinnung zu beeinflussen; es reicht vielmehr aus, diejenigen Grenzen zu bestimmen, innerhalb derer jedermann unabhängig vom Willen anderer das gleiche Recht hat, zu tun und zu lassen, was er möchte.

 

Alle empirischen Gründe, die für die Errichtung von Rechtsverhältnissen und gegen die Anarchie sprechen mögen, z.B. weil alle materiellen Ressourcen stets begrenzt und alle Menschen latent aggressiv sind, sind für Kant unerheblich, weil die Entscheidung für die Herrschaft des Rechtes bereits vor aller Erfahrung rein aus dem Begriff der Freiheit aller Vernunftwesen folgt. Das Recht wird auch nicht dafür gebraucht, damit sich bedürftige Wesen gegenseitig solidarisch unterstützen, sondern ausschließlich damit sich freie Wesen gegenseitig angesichts von Konflikten als handlungs- und zurechnungsfähig respektieren. Das Recht wird nicht der Macht abgerungen, sondern die legitime Macht – und das ist immer gesetzlich geordnete, also legitime Staatsgewalt – wird aus dem Recht begründet. Die Rechtsgemeinschaft garantiert nicht ein bequemes, sondern ein freies Leben, das aber garantiert sie entschlossen. Sie will ihre Mitglieder gerade nicht vormundschaftlich beglücken und versorgen, sondern sie befreien, damit sie ihrer Rechte gewiss selbst ihr Glück machen können. Der moderne Sozialstaat verteilt keine Almosen, sondern etabliert Rechtsansprüche für die Ausnahmefälle von Krankheit, Unfall, Arbeitslosigkeit und Alter, damit alle Bürger dasjenige Minimum an materiellen Lebensgrundlagen teilen können, das erforderlich ist, um an den demokratischen Entscheidungsprozessen teilhaben zu können.

 

Es ist ein Gedanke von Thomas Hobbes, der sowohl Rousseau als auch Kant den Weg zu einer vernünftigen Legitimation von Herrschaft ebnet. Hobbes geht von einem natürlichen Recht des Menschen auf Selbsterhaltung aus und erkennt, dass ohne eine gesetzliche Einschränkung dieses Rechtes jeder Mensch ein Recht auf alles hätte und alleiniger Richter über sich selbst wäre. Machte jedermann von seinem Recht auf Selbsterhaltung gänzlich ungehinderten Gebrauch, dann wäre sich niemand mehr eben dieses Rechtes sicher. Es ist das Verdienst des englischen Philosophen, den Konflikt ins Zentrum einer neuzeitlichen Theorie des Politischen und Sozialen gestellt zu haben. Wer sich selbst erhalten will, muss also jenen „Naturzustand“ verlassen, der durch das bloße Recht auf Selbsterhaltung charakterisiert ist, und muss seinen Selbsterhaltungsanspruch an ein alle anderen Menschen überlegenes souveränes Selbst abtreten, das neben allen anderen auch sein Leben davor bewahrt, „einsam, armselig, scheußlich, tierisch und kurz“ zu enden.[5] Kant erkennt, dass in diesem Fall die willkürliche Handlungsfreiheit jedes Einzelnen von der auch wiederum willkürlichen Handlungsfreiheit eines ausgewählten Einzelnen abhinge, also weiterhin in höchstem Maße ungesichert bliebe. Die Lösung kann also weder ein übermächtiger, aber letztlich doch nur fremder menschlicher Wille liefern noch ein von einem der Menschennatur gemäßen „allgemeinen Willen“ garantierter Zweck wie die Selbsterhaltung. Die für jeden Einzelnen verbindliche Lösung kann nur in dem eigenen Willen eben jedes Einzelnen liegen und im Verzicht auf vordefinierte Zwecksetzungen. Wenn ein Prinzip und Gesetz aufgerichtet wird, das jedem Vernunftwesen als autonomem Selbstgesetzgeber und jedem Menschen als Träger der Menschenwürde das Recht garantiert, seine Zwecke selbst setzen zu können, ethische Zwecke eingeschlossen, nur dann kann jedermann diesem Recht zustimmen, weil es ihm und allen anderen überhaupt erst jenen per definitionem unbedingten Rechtsstatus zuerkennt. Zudem muss sich der Gesetzgeber, wie immer er sich konstituiert, jeglicher inhaltlicher, also auch ethischer Festlegung der Zwecke enthalten. Er garantiert den formalen Rahmen, in dem die Bürger ihre Zwecke inhaltlich aushandeln und durchaus im Medium loyaler Assoziierung einüben: „man kann zu dieser (Freiheit, H.v.S.) nicht reifen, wenn man nicht zuvor in Freiheit gesetzt worden ist (man muss frei sein, um sich seiner Kräfte in Freiheit zweckmäßig bedienen zu können) … man reift für die Vernunft nie anders, als durch eigene Versuche (welche machen zu dürfen man frei sein muss)“ (Religion AA VI, 188 Fn).

 

Weil es in der internationalen Staatenwelt aber nun einmal alles andere als selbstverständlich ist, dass staatliche Souveränität als Verfassungs- und Exekutivgewalt auch an das Recht, also an Legitimität gebunden wird, muss daran ständig erinnert werden. Das ist wohl selten so einsichtig gewesen wie nach den ungeheuerlichen Zivilisationskatastrophen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Deshalb trafen sich nach dem Kriege Delegierte der Menschheitsfamilie unter dem Vorsitz von Eleanor Roosevelt in New York und verfassten die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte. Sie gibt der kantischen Rechtsidee die Gestalt eines positiven vorstaatlichen Rechtes, an dem jegliches staatliche Recht sich zukünftig zu messen habe.

 

Gemäß der Präambel der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948 zielt die Erklärung auf eine Welt, „in der die Menschen Rede- und Glaubensfreiheit und Freiheit von Furcht und Not genießen.“ Und diese Worte wurden 1948 nicht in philosophischen Seminaren entwickelt, sondern spiegelten den Aufschrei von Millionen von Geschundenen, Missbrauchten, Unterdrückten, Vertriebenen und Verschleppten. Das Entsetzen galt einer Moderne, die nicht nur nicht in der Lage war, brutalste Formen der Menschenverachtung zu verhindern, sondern sie allererst in äußerster Form hervorbrachte. Der Präambel lässt sich eine Gliederung in drei einander ergänzende Arten von Menschenrechten entnehmen. Rede- und Glaubensfreiheit stehen für alle politischen Freiheitsrechte, also Meinungsfreiheit, Versammlungsfreiheit und das demokratische Wahlrecht sowie für alle geistigen Freiheitsrechte in Gewissens- und Glaubensfragen. Die Freiheit von Furcht repräsentiert das Recht auf Schutz vor willkürlicher Inhaftierung, Rechtsbeugung und Gefährdung von Leib und Leben. Die Freiheit von Not summiert alle wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte auf Teilhabe am gesellschaftlich gewonnenen Wohlstand. Die Umsetzung der Erklärung von 1948 in völkerrechtlich verbindliche Normen erfolgte 1966 mit der Verabschiedung von zwei Menschenrechtspakten, die 1976 unabhängig voneinander in Kraft traten: der Internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte und der Internationale Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte. Der Pakt über bürgerliche und politische Rechte (BP-Rechte) erlegt den Staaten (negativ) Enthaltungen auf, sie dürfen z.B. Zensur und Folter weder praktizieren noch dulden. Der Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (WSK-Rechte) fordert von den Staaten (positiv) Leistungen, deren Einlösung jedoch von der wirtschaftlichen Entwicklung und den finanzpolitischen Spielräumen der Staaten abhängt. Daraus ist lange gefolgert worden, die WSK-Rechte eigneten sich nur als programmatische Ziele und könnten keine echten Menschenrechte darstellen. Die Wiener Weltmenschenrechtskonferenz von 1993 bekräftigte jedoch die Unteilbarkeit aller Menschenrechte: auch WSK-Rechte statuieren echte Menschenrechtsansprüche, die eingeklagt oder zumindest in diversen wohlfahrtsstaatlichen Modellen auf Einklagbarkeit hin ausgestaltet werden können. So ergeben sich heute die folgenden drei gleichwertigen Ebenen staatlicher Pflichten: zur politischen und geistigen Achtung in Rahmen symbolischer Kommunikation (duty to respect), zur Schutzgewährleistung in der Ausübung von Herrschaft (duty to protect) und zur Bereitstellung von Infrastruktur und Ressourcen im Rahmen wirtschaftlicher, sozialer und kultureller Teilhabe (duty to fulfil).

 

Wird nun mit dieser starken Dosis kantischer Philosophie die Menschheit als Ganze von ihren moralischen Gebrechen stetig geheilt und aus Unfreiheit zur Freiheit gelangen? Ist der Prozess der Zivilisation trotz mancher Niederlagen und Katastrophen planbar, unaufhaltsam und unumkehrbar? Was in dieser Welt ist planbar, unaufhaltsam und unumkehrbar? Karl Popper formulierte 1935, also am Vorabend des Zweiten Weltkriegs: „Soziale Revolutionen werden nicht durch rationale Pläne, sondern durch soziale Kräfte herbeigeführt, etwa durch Interessenkonflikte. Die alte Idee eines mächtigen Philosophen-Königs, der irgendwelche sorgfältig ausgedachten Pläne verwirklicht, war ein Märchen, das im Interesse einer Grundbesitzeraristokratie erfunden wurde. Das demokratische Gegenstück zu diesem Märchen ist der Aberglaube, daß man durch rationale Argumente eine genügend große Anzahl von gutwilligen Menschen dazu bringen könnte, nach einem vorgefassten Plan zu handeln. Die Geschichte zeigt, dass die Realität des gesellschaftlichen Lebens ganz anders ist. Der Ablauf der geschichtlichen Entwicklung wird niemals von theoretischen Konstruktionen bestimmt, so vortrefflich sie auch sein mögen, wenn auch allerdings solche Gedankengebilde ohne Zweifel neben anderen, weniger rationalen (ja sogar völlig irrationalen) Faktoren einen gewissen Einfluss ausüben mögen. Selbst wenn ein solcher rationaler Plan mit den Interessen mächtiger Gruppe übereinstimmt, wird er nie in der Form verwirklicht werden, in der er konzipiert wurde, obwohl der Kampf um seine Verwirklichung dann ein wichtiger Faktor im Geschichtsprozeß wäre. Das Endresultat wird sich von der rationalen Konstruktion immer sehr unterscheiden. Es wird immer das Ergebnis aus der jeweiligen Konstellation rivalisierender Kräfte sein. Außerdem könnte das Ergebnis rationaler Planung unter keinen Umständen eine stabile Struktur werden, denn das Gleichgewicht der Kräfte wird sich zwangsläufig verändern“.[6]

 

Der politische Realist Karl Popper rennt bei dem Philosophen Immanuel Kant offene Türen ein. Einen „gewissen Einfluss“ von Moral, Recht und Ethik unterstellt auch der abgeklärte Pragmatiker. Aber es geht bei der Frage nach der Vernunft in der Politik weder um einen diffusen „gewissen Einfluss“ noch um einen Masterplan für vermeintlich irreversible Fortschritte. Es geht schlicht um Arrangements im politischen Raum, die auch für Konfliktparteien attraktiv sind, die diametral entgegengesetzte Interessen verfolgen. Die können ihren Konflikt gewiss jederzeit mit Gewalt austragen, allerdings mit unkalkulierbaren und in einer nuklear gerüsteten Welt im Ausmaß sogar für alle inakzeptablen Risiken.

 

Auch in Kants ewigem Frieden hat niemand den großen Plan, dort kann man kooperieren, und man kann konfrontieren, man kann Deals anbieten, man kann sogar drohen und abschrecken, man kann sich auch verteidigen und den Kampf aufnehmen. Aber da dies niemals im luftleeren Raum und jenseits etablierter Machtverhältnisse geschieht, geht es darum, die Entwicklung solcher Machtkonstellationen nicht völlig dem Zufall zu überlassen, sondern durch ein paar Regeln in zunehmend vernünftige Bahnen zu lenken:

 

»Alle Mitglieder unterlassen in ihren internationalen Beziehungen jede gegen die territoriale Unversehrtheit oder die politische Unabhängigkeit eines Staates gerichtete oder sonst mit den Zielen der Vereinten Nationen unvereinbare Androhung oder Anwendung von Gewalt.«

(Charta der Vereinten Nationen und Statut des Internationalen Gerichtshofs, Kapitel 1, Artikel 2 Absatz 4, San Francisco 1945)

 

Der Friedensbegriff Kants leugnet den Konflikt nicht, sondern setzt ihn voraus und entwickelt ihn aus der Logik konfligierender Interessen und ihrer wechselseitigen Abstimmung. Sein kategorischer Rechtsimperativ wird im Binnenverhältnis der Rechtsgenossen zu einem Staatsimperativ und im zwischenstaatlichen Verhältnis zu einem kategorischen Friedensimperativ. Politischen Frieden zu stiften muss und wird sicher auch Anliegen und Aufgabe geschichtlich gewachsener Gruppen, freier religiöser Frömmigkeit und ebenso freier ökonomischer Interessen sein, dem ungeachtet ist es aber zuallererst eine rechtsethisch begründete Pflicht, die verbindlich gemacht werden muss. Sollen nicht der Erschöpfungsfrieden oder die Friedhofsruhe am Ende eines ewigen Weltbürgerkrieges zu Ziel und Zweck der Menschheitsgeschichte avancieren, dann bedarf es einer Alternative. Und die stellt die Rechtsidee. Ist einmal ein gerechtes Recht aufgerichtet, indem das moralisch begründete Menschenrecht anerkannt wird, dann muss dieses auch mithilfe gemeinsamer öffentlicher Verfassungs- und Exekutivgewalten, also mittels Staaten, durchgesetzt werden. Und diese primären Staaten wiederum schließen sich zu einem sekundären Staat zusammen, zu einer Republik der Republiken. Aus der moralischen Verpflichtung zur Anerkennung von solchen „Rechtsstaaten“ und aus der Logik des rechtlich verfassten Souveränitätsprinzips stiften Menschen den politischen Frieden in der Welt: »Vom römischen Militärtheoretiker Vegetius (4. Jh. N. Chr.) stammt das Motto, dem viele Staaten der Welt folgen: „Si vis pacem, para bellum.“ (Wenn du den Frieden willst, so rüste für den Krieg.) In der Sache setzt Kant an dessen Stelle: „Si vis pacem, para iustitiam.“ (Wenn du den Frieden willst, so sorge für Gerechtigkeit.)«.[7]

 

 

3. Den Krieg als Rechtsgang verdammen

 

„Da die Art, wie Staaten ihr Recht verfolgen, nie wie bei einem äußern Gerichtshofe der Proceß, sondern nur der Krieg sein kann, durch diesen aber und seinen günstigen Ausschlag, den Sieg, das Recht nicht entschieden wird, und durch den Friedensvertrag zwar wohl dem diesmaligen Kriege, aber nicht dem Kriegszustande (immer zu einem neuen Vorwand zu finden) ein Ende gemacht wird (den man auch nicht geradezu für ungerecht erklären kann, weil in diesem Zustande jeder in seiner eigenen Sache Richter ist), gleichwohl aber von Staaten nach dem Völkerrecht nicht eben das gelten kann, was von Menschen im gesetzlosen Zustande nach dem Naturrecht gilt, "aus diesem Zustande herausgehen zu sollen" (weil sie als Staaten innerlich schon eine rechtliche Verfassung haben und also dem Zwange anderer, sie nach ihren Rechtsbegriffen unter eine erweiterte gesetzliche Verfassung zu bringen, entwachsen sind), indessen dass doch die Vernunft, vom Throne der höchsten moralisch gesetzgebenden Gewalt herab, den Krieg als Rechtsgang schlechterdings verdammt, den Friedenszustand dagegen zur unmittelbaren Pflicht macht, welcher doch ohne einen Vertrag der Völker unter sich nicht gestiftet oder gesichert werden kann: - so muß es einen Bund von besonderer Art geben, den man den Friedensbund ( foedus pacificum ) nennen kann, der vom Friedensvertrag ( pactum pacis ) darin unterschieden sein würde, daß dieser bloß einen Krieg, jener aber alle Kriege auf immer zu endigen suchte.“ (AA VIII 355f.)

 

Die Väter und Mütter der Charta haben diesen Vorschlag 1945 in San Francisco beherzigt. Die Charta setzt kein Kriegsvölkerrecht, sondern Friedensvölkerrecht, das nicht weniger zum Ziel hat als die Abschaffung des Krieges. Krieg wird als Mittel zwischenstaatlicher Konfliktregulierung schlechterdings nicht mehr akzeptiert. Es gibt kein ius ad bellum mehr, nur noch ein ius contra bellum. „Am 1. Mai 1916 eröffnete Karl Liebknecht auf einer Antikriegsdemonstration auf dem Potsdamer Platz in Berlin seine Rede mit den Worten „Nieder mit dem Krieg! Nieder mit der Regierung!“ Zu Beginn des Jahrhunderts noch Parole im politischen Kampf gegen die Initialkatastrophe von 1914, war dies zwei Weltkriege und ein halbes Jahrhundert später Konsens der in den Vereinten Nationen versammelten Staatengemeinschaft. Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von 1948 und die Charta der Vereinten Nationen von 1945 in Verbindung mit der Haager Landkriegsordnung von 1907 und den seit 1864 fortgeschriebenen Genfer Abkommen bilden die Dachdokumente einer robusten Ethik rechtserhaltender Gewalt, die, wie aus dem Vorstehenden jetzt ersichtlich sein dürfte, im Wesentlichen eine Rechtsethik sein muss.

 

 

4. Wie wird der „ewige Frieden“ organisiert?

 

Liegt es im Wesen des Politischen, Zwecke zu setzen und damit Konflikte auszulösen, so liegt es im Wesen des Rechtes, diese Zwecke mit friedlichen Mitteln zu verfolgen und die Konflikte gewaltfrei zu lösen. Was im Kleinen gilt, kann so auch im Großen gelten. Und sowohl im Kleinen wie im Großen kann das Recht als Gesetz seine Wirkung nur erzielen, wenn die Rechtsgenossen sich einer Ethik der Rechtsbefolgung gemäß an den Geist und die Buchstaben ihrer eigenen Gesetze auch halten. In privaten Beziehungen sprechen wir dann weniger von "Recht" als von "Respekt". Schön ist es, wenn Menschen sich lieben. Aber auch das wird nur gelingen, solange sie einander mit Respekt begegnen. Und das ist schon sehr viel. Im großen Maßstab sprechen wir von der Anerkennung staatsbürgerlicher Rechte. Und in einem noch einmal übergeordneten Sinne sprechen wir von der Anerkennung der Volkssouveränität und der Staatensouveränität. In beiden Fällen, beim Einzelstaat und bei der Staatengemeinschaft, ist so etwas wie Nationalcharakter, Leitkultur oder Gemeinschaftstreue für den Zusammenhalt nicht erforderlich. Es reicht der Respekt vor der von allen gemeinsam getragenen Rechtsordnung. Das ist schon sehr viel.

 

Mit Kant lassen sich drei Typen internationaler Ordnung denken. Es sind internationale Vertragsorganisationen denkbar, die den vertragsschließenden Parteien keinen Souveränitätsverzicht auferlegen. Es gibt Bundesstaaten, in denen die Mitgliedsstaaten bestimmte Teile ihrer Souveränität miteinander teilen, bündeln, hierarchisieren und gemeinsam zur Wirkung bringen. Und es könnte theoretisch einen Welteinheitsstaat mit einem zentralen Souverän an der Spitze geben. Obgleich die Vernunft mit ihrer Vision eines unbefristeten Friedens ein oberstes Exekutivorgan und Weltgewaltmonopol fordert, kennt Kant die pragmatischen und mehr noch die historischen Gründe, die dagegensprechen. Er plädiert deshalb für die im Sinne der Vernunft zweitbeste Lösung, nämlich für den Souveränitätsverzicht der Einzelstaaten zu Gunsten einer föderalen und globalen Republik der Republiken.

Im Modell des Bundesstaates als Sekundärstaat im Verhältnis zu den primären Einzelstaaten sind Ebenen abgestufter Souveränität nichts Ungewöhnliches. Je nach Reichweite, Dringlich keit und vor allem Betroffenheit durch Entscheidungsprozesse können die verschiedenen Staatsaufgaben auf die unterschiedlichen Ebenen verteilt werden. Der alte Grundsatz der amerikanischen Revolutionäre no taxation without representation nennt das Kriterium. Wer bezahlt, darf auch bestellen, und wer bestellt, soll auch haften. Selbst im Modell eines Weltstaates wäre es ja durchaus denkbar, der Spitze nur eine minimale Kompetenz zuzuweisen, und zwar die Zuständigkeit ausschließlich für die Sicherung der territorialen Integrität und der kulturellen Selbstbestimmung der Einzelstaaten. Alle anderen Kompetenzen gingen an die unteren Ebenen, insbesondere alle Entscheidungsgewalt über Währung und Staatshaushalt, über Zivilrecht und Strafrecht, über Arbeits- und Sozialrecht, über Sprache, Religion und Kultur. Die Vereinten Nationen sind nach diesem Verständnis eine Vertragsorganisation und kein Bundesstaat, geschweige denn einen Weltstaat. Auch ein regionales System kollektiver Sicherheit im Sinne der VN-Charta wie z.B. die NATO ist eine Vertragsorganisation und kein Staat aus Staaten. Hier kommen Staaten zusammen, die völlig unterschiedliche Herrschaft- und Regierungsformen und vor allem Legitimationen haben können. Sie sind sind nur einig darin, keinen Krieg zuzulassen.

 

 

5. Zur Zukunft des politischen Europa

 

Folgt man dem Gedankengang bis zu diesem Punkt, wird deutlich, dass der kantische Republikanismus Souveränität und Legitimität nur zusammen denken kann. Der Begriff der Souveränität erfüllt demnach mit dem Schutz der demokratischen Selbstbestimmung seinen wichtigsten Zweck. Der aktuell wohl wichtigste Testfall für die Tragfähigkeit dieser Gedanken ist die Europäische Union.[8]  Sie übertrifft nach Umfang der Kompetenzen, Anzahl der Aufgaben und organisatorischer Verflechtung alle anderen bekannten überstaatlichen Organisationen. Zu einem Oberstaat aber ist auch sie bis heute nicht geworden, denn ihre Mitglieder stellen selbst historisch gewachsene und geprägte Staaten dar, die ihre Souveränität um ihrer demokratische Legitimität willen gar nicht preisgeben dürfen. Soll es eines Tages einen europäischen Souverän geben, ein europäisches Volk also, dann muss dieses einen Mittelweg finden zwischen der Vereinigung in einem europäischen Staat, welche absehbar keine Mehrheiten finden wird, und der Fragmentierung der politischen Handlungsfähigkeit, die angesichts wachsender Problemen absehbar nicht mehr akzeptiert werden kann.

 

Der Begriff des Souveräns meint die letzte und höchste Instanz politisch-rechtlich ordnender Macht. Wenn also die europäischen Staaten souverän bleiben sollen und die europäische Union souverän werden soll, dann ist der Konflikt der Souveräne vorprogrammiert. Man kann diesen Konflikt zwar durch Differenzierung abschwächen, in denen man Souveränität zum Beispiel inhaltlich beschränkt und auf verschiedene Träger verteilt, aber im Kern, d.h. in den Schlüsselfragen der politischen Selbstbestimmung, bleibt der Grundkonflikt bestehen. Im klassischen Bundesstaat wird der Grundkonflikt durch Hierarchisierung, also Über- und Unterstellung gelöst. Eine Alternative ist das Modell der permanenten Aushandlung, allerdings mit der Gefahr, dass man zu keinem Ergebnis kommt. Notfalls müssen die Konfliktparteien stillhalten, mit dem Dissens leben, sie müssen das Kunststück hinbekommen, mit dem Buch von Regeln zu leben, und die Regeln gleichwohl hoch zu halten. Sie müssen lernen in geschichtlich anspruchsvollen Dimensionen zu denken. Und das Modell muss als solches ausgearbeitet und öffentlich kommuniziert werden. Die Bürgerinnen und Bürger Europas müssen wissen, worauf sie sich einlassen und worauf nicht. Sonst muss man sich nicht wundern, wenn national-autoritäre Stimmen mit breiter Zustimmung nicht nur die Idee einer europäischen Demokratie, sondern gleich auch die Demokratie schlechthin für schwach und überholt erklären.

 

Die Grundregeln der Europäischen Union schöpfen ihre Plausibilität aus der Überwindung der Katastrophe zweier Weltkriege und aus der dahinterliegenden Ambivalenz der europäischen Expansion und damit der Moderne generell. Nur wenn diese Geschichte bewahrt und erzählt wird, verstehen die Menschen, warum es die Regeln geben muss, auch wenn ihre Durchsetzung in einigen Fällen sogar über längere Zeit hinweg im befristeten Einvernehmen ausgesetzt wird. Die Geschichte trägt das Ethos. Und wer trägt die Geschichte? Wer erinnert sie, holt sie wieder hervor, verarbeitet sie erneut? Dazu bedarf es Menschen mit festen Überzeugungen und hoher Leidensfähigkeit, die in der politischen Debatte nicht die Nerven verlieren und Politik als Beruf nicht scheuen.

 

 

 

[1] Bass, Hans-Heinrich (2012): Welternährung in der Krise (GIGA Focus Global 2012/5), .

[2] Vgl. Bielefeld, Ulrich / Bude, Heinz / Greiner, Bernd (2012): Gesellschaft – Gewalt – Vertrauen. Jan Philipp Reemstma zum 60. Geburtstag, Hamburg.

[3] AA VIII; Kant wird hier zitiert nach der Ausgabe der Preußischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 1902 ff. (AA); vgl. die Kommentierungen Eberl, Oliver / Niesen, Peter (2011): Immanuel Kant. Zum ewigen Frieden und Auszüge aus der Rechtslehre, Frankfurt M.; Höffe, Ottfried (20113, Hrsg.): Immanuel Kant. Zum ewigen Frieden, Berlin.

[4] WA VI, 20-38; die längere lateinische Fassung ebd., 49-73; Luther wird hier zitiert nach der Weimarer Ausgabe: Martin Luther: D. Martin Luthers Werke. 120 Bände Weimar, 1883–2009 (WA). Kommentierung Rieger, Reinhold (2007): Von der Freiheit eines Christenmenschen. De libertate christiana.

[5] Waas, Lothar R. (2011): Hobbes, Thomas. Leviathan oder Stoff, Form und Gewalt eines kirchlichen und bürgerlichen Staates. Teil I und II, Rückblick und Schluß, Berlin 2011; Kap. 13.

[6] Popper, Karl R. (20037): Das Elend des Historizismus, Tübingen. 41f.

[7] Höffe, Ottfried (2011): Einleitung: Der Friede – ein vernachlässigtes Ideal, in: Höffe, Ottfried (20113, Hrsg.): Immanuel Kant. Zum ewigen Frieden, Berlin, S. 12.

[8] Vgl. Grimm, Dieter (2009): Souveränität. Herkunft und Zukunft eines Schlüsselbegriffs, Berlin.