Hartwig von Schubert

Hamburg 2016

www.protestantacademy.eu

 

Wozu Religion?

 

Drei Dinge liegen mir im Folgenden besonders am Herzen. Zum einen möchte ich zeigen, dass Religion den Vorwurf des Kindlichen, des Fremdartigen oder des Aberglaubens nicht verdient und das Pathos der Inbrunst nicht braucht. Ferner möchte ich das Thema Religion kritisch angehen, um der Degradierung von Religion zum Herrschaftsmittel und Konsumartikel entgegenzutreten. Und schließlich möchte ich Bemühungen um ethische Urteilsbildung in den weiten Horizont der Religionen und Kulturen der Welt stellen. Dazu gehe ich in vier Schritten vor: Im ersten Schritt definiere ich Religion als Sammelbegriff für die Grundlagen symbolischer Ordnungen. Als solche stelle ich Religion zweitens in den Kontext der Zivilisationstheorie von Norbert Elias, um die Frage aufzunehmen, ob und wie Religion zivilisierend wirken kann. Drittens trete ich der Karikatur entgegen, Religion sei als ein objektives Absolutum vom Himmel gefallen. Schließlich erörtere ich unter dem Stichwort Weltverantwortung die Möglichkeit, auf bildhafte Religion oder begriffliche Metaphysik einerseits nicht zu verzichten, da wir sonst in Fragen jeglicher Orientierung sprachlos wären, sich in beidem dann aber auch in der gebotenen Bescheidenheit zu üben.

 

 

1. Was ist Religion?

 

Aberglauben, Inbrunst, Absurdität und Opportunismus zählen zu den verbreiteten menschlichen Schwächen und können sich mit allem möglichen verbinden, gewiss auch mit Religion, aber ebenso mit Wissenschaft, Kunst und Philosophie, mit Politik und Geld. Niemand sollte sich über derlei Schwächen erhaben fühlen; irgendeine Esoterik pflegt vermutlich jeder.[1] Das kann, muss aber nichts mit Religion zu tun haben. In der Religion geht es um mehr. Religion repräsentiert die Hintergründe der symbolischen Ordnungen, in denen Menschen sich orientieren. Sie ist deren Manifestation und umgibt das lebensweltliche mythische Bewusstsein mit einem institutionellen Rahmen. Und das mythische Bewusstsein ist nichts, was Menschen jemals abstreifen und hinter sich zurücklassen könnten. Nicht nur in kulturellen Gewohnheiten und politischen Überzeugungen, sondern bis in die abstrakteste Sprache mathematischer und naturwissenschaftlicher Erkenntnis hinein wirken mythische Muster, insofern solche Erkenntnisse von existentiellen Realitäten erzählen, die es zu verstehen, und Entscheidungen begründen, die es zu treffen und deren Folgen es zu tragen gilt. Religion ist also viel zu wichtig, als dass sie Esoterikern und Ideologen überlassen werden könnte. Angesichts der fundamentalen Funktion von Religion verwundert es nicht, dass sie zu allen Zeiten geliebt und gehasst wurde, heiß umkämpft war, ist und bleiben wird. Weithin haben Esoteriker und Ideologen aller Couleurs in einem Maße die Definitionsmacht über Religion an sich ziehen können, dass aufgeklärten, esoterisch mäßig begabten und ideologisch wenig festgelegten Menschen kaum etwas Anderes übrigbleibt, als sich als irreligiös und agnostisch zu bezeichnen. Sie verstellen sich aber damit den lebendigen Zugang zu vitalen kulturellen Traditionen und tragen auch nichts dazu bei, diesen Zugang offen zu halten und zu pflegen. So erfüllen die Super-Religiösen und die komfortabel Irreligiösen gemeinsam – auch noch 70 Jahre nach der bis heute ebenso originellen, wie frischen und überzeugenden Rede Bonhoeffers vom „religionslosen Christentum“[2] – das Wort Jesu: „Wehe euch, Schriftgelehrte und Pharisäer, ihr Heuchler, die ihr das Himmelreich zuschließt vor den Menschen! Ihr kommet nicht hinein, und die hinein wollen, lasst ihr nicht hineingehen” (Matth. 23,13).

 

Da ich mir wünsche, dass die Pforten zwischen Himmel und Erde und zwischen Diesseits und Jenseits – u.a. zwischen Diesseits und Jenseits von Gut und Böse – möglichst in jeder Richtung offen und durchlässig sind, liegt mir sehr viel daran, Religionen, Weltanschauungen und die mit ihnen befassten Wissenschaften, also insbesondere Philosophie und Theologie, aber längst auch die Soziologie und inzwischen auch die Psychologie in ihrem lebendigen Gespräch zu erleben. Damit stehe ich keineswegs allein. Ich nenne nur Paulus-Lektüren wie die von Taubes, Badiou, Agamben, Zizek und Santner[3]; die philosophischen Beiträge von Theologen und Soziologen muss ich hier nicht zitieren, sie sind Legion. In der Psychologie, namentlich der Psychotherapie arbeiten aktuell Barnett und Johnson, Bartoli, Friedrich-Killinger, Grom, Kirkpatrick, Noyon und Heidenreich zum Thema.[4] Insbesondere wünsche ich mir, dass die Kontrahenten es sich nicht zu leichtmachen, sondern jeweils die starken Vertreter anderer Positionen zum Streit fordern. Sind nicht alle Philosophen und Theologen und mit ihnen Pädagogen, Psychologen, Soziologen, Juristen und Mediziner u.a. damit befasst, eigene und fremde Begriffe und Sätze, Intuitionen und Erfahrungen am Leitfaden mehr oder weniger kanonischer Texte und Verfahren in einem sinnträchtig verknüpften Gleichgewicht zu halten? „Groß“ möchte ich diejenigen nennen, die sich auf den beschwerlichen Weg machen, sich über auch tief gründende und sehr weitreichende gedanklich-methodische Voraussetzungen und Folgerungen verbreiteter Lebenspraktiken kritische Rechenschaft abzulegen und dabei doch stets darauf achten, den alltäglichen, individuellen Erfahrungen und Intuitionen eben dieser Praxis treu zu bleiben und sie gegen das Drängen methodischer Selbst- und Weltbemächtigung bewusst behutsam zu entwickeln.

 

Dafür gibt es eine ebenso hilfreiche wie bescheidene Methode: Die Frage nach der auf konkrete lebensweltlich geschichtliche Erfahrungen bezogenen Genealogie und Funktion mythisch-theologischer Motive – wie z.B. der „Allmacht Gottes“ oder philosophisch-spekulativer Figuren einer „Theodizee“ – stärkt die Empathie für das Individuelle, deckt Machtansprüche auf und bewahrt in der Regel davor, sich in krude Systemansprüche zu versteigen oder in naives Wunschdenken zu flüchten. Die tägliche Alltagserfahrung und unsere individuelle Art, deren Details zu ordnen, mögen ein schwaches und oftmals auch nur schwer kommunizierbares Bezugssystem darstellen, aber, wenn wir ehrlich sind, was sonst haben wir? Methodisch destillierte, systematisch aufbereitete und präparierte Erfahrungen jeglicher Art – also auch in ethischer Hinsicht – sollen der Lebenswelt dienen, setzen sie voraus und sind nur eine unter vielen Wegen, sie und uns in ihr besser zu verstehen.[5]

 

Was bringt uns denn der Abstieg in die Archive von Religion und Philosophie? Meine Antwort: eine heilsame Ernüchterung. Der monotheistische jüdisch-hellenistisch-christlich-islamische Mythos, so meine These, hat im Verein mit dem griechisch-lateinisch-arabisch-europäischen Logos die Moderne und ihre Krisen maßgeblich mit hervorgebracht. Deshalb müssen wir in ihre Archive hinabsteigen, um herauszufinden, was zu erinnern und zu bewahren ist, was aktuell Orientierung bietet und wo Revisionen ansetzen sollten. Logos und Mythos begegnen sich heute u.a. unter den Rubriken „Naturalismus“ und „Religion“.[6] Zwischen solchen Polen vermitteln im Blick auf reflektierte Praxis und Politik die Ethik und das Recht. Ethik und Recht jedoch kommen immer zu spät, sie werden nicht richtig verstanden, sie motivieren und sie binden immer nur sehr unvollkommen. Das liegt in ihrem Wesen, da sie die Willkürfreiheit voraussetzen, die sie anschließend durch das teils individuelle teils gemeinsame Gesetz der Freiheit in die Bahnen der Vernunft lenken. Dem sucht jene sich freilich ständig zu entziehen. Je angemessener Ethik und Recht auf ihren konkreten Anlass reagieren, desto stärker überfordern sie ihre Adressaten. Platon und Aristoteles überforderten die Bürger der bedrohten griechischen Polis nach der Niederlage Athens im Peloponnesischen Krieg. Die jüdische Tradition vom Bundesbuch über das Deuteronomium bis zum Heiligkeitsgesetz vermochte den Weg in die nationalreligiöse Katastrophe der jüdischen Spätantike nicht aufzuhalten. Nicht einmal eine Bergpredigt erwies sich als widerständig genug, um nicht zur Legitimation der allerchristlichsten Inquisition herzuhalten. Weder das Kant'sche Freiheits- noch das Mill'sche Nützlichkeitsversprechen ersparten ihren Zeitgenossen die Folgen der Siegeszüge des wissenschaftlichen Naturalismus und der revolutionär und ideologisch entfesselten Politik im Rausch der europäischen Expansion.

 

Ebenso überfordert die Ethik des Menschenrechts uns Heutige angesichts der Globalisierung, der Krise der Weltfinanzsysteme, der Staaten und der Demokratie. Überforderungen gründen in der paradoxen Natur der Ethik. Denn einerseits lehrt sie uns, uns mit dem Bekenntnis für eine Handlung, einen Handlungsgrundsatz, eine Politik, ein Gesetz, eine Gesinnung, eine Moral so viel Zeit zu lassen, wie zum Austausch von Argumenten für und wider nötig ist, eben unendlich viel Zeit. Andererseits ist jede Minute bewusst gelebten und unwiederbringlichen Lebens ein de facto Bekenntnis, das sich früher oder später der Bestreitung seiner Legitimität ausgesetzt sieht. Denn das Schicksal herrscht universal, – außer vielleicht in den Tiefen des menschlichen Herzens? Alle großen Ethiken lösen dieses Paradox der Zeit, die jeder braucht und niemand hat, indem sie nie anders als zu dem einzelnen Menschen reden, ihre Methodologie gleichwohl über die Zeiten hinweg anwendungsflexibel, d.h. auf verschiedenste konkrete Fälle anwendbar entwickeln, sich affektiv-spontaner moralischer Skandalisierungsneigung enthalten, auf die generationenübergreifende Einsicht und vor allem in Gestalt der Rechtsethik auf die zivilisierende Kraft des Rechts hoffen. So gesehen brauchen wir keine neuen Ethiken mehr, wir haben schon eher zu viele.

 

 

2. Religion im Prozess der Zivilisation

 

Jede Gesellschaft, so schreibt Norbert Elias, einer der einflussreichsten Soziologen des 20. Jhdts., in seinem Hauptwerk „Der Prozess der Zivilisation“ (Elias 1939), hat ein Gewaltproblem, ein Armutsproblem und ein Kommunikationsproblem. Zunächst zum Gewaltproblem: Jeder Mensch muss jederzeit mit der Gewalt aller anderen Menschen rechnen. Das Mittel, die Gewalt aller gegen alle einzuschränken, ist laut Norbert Elias die Herrschaft. Herrschaft ereignet sich überall dort, wo Menschen anderen Menschen Befehle erteilen, die diese mal aus Furcht, meistens aber aus Respekt und Einsicht befolgen. Die voll entwickelte Form von Herrschaft ist der Staat bis hin zum ausgereiften Rechtsstaat. Dort wird man im Idealfall nicht beherrscht, sondern regiert.

Jede Gesellschaft hat ferner ein Armutsproblem, denn jeder Mensch muss jeden Tag essen und trinken und manches darüber hinaus. Fehlt es daran, herrscht Armut. Das Mittel, der Armut zu begegnen, ist die Allokation. Das lateinische Wort locus bedeutet Ort. Nahrung, Kleidung, Baustoffe, Heizmaterial und dergleichen müssen am Wohnort zusammengetragen werden. Oftmals kann jedoch nicht jeder Haushalt alles selbst beschaffen. Und wenn Haushalte sich auf das spezialisieren, was sie am besten können, dann fehlen ihnen wichtige andere Dinge. Dann bedarf es eines dritten Ortes, an dem alles getauscht werden kann. Die entwickelte Form der Allokation ist der Markt. Hier schon wird eine erste Wechselbeziehung sichtbar. Keine Herrschaft kann sich auf Dauer halten, wenn sie nicht einen Markt erlaubt, auf dem die Menschen sich versorgen können. Kein Markt wiederum kann bestehen ohne eine Herrschaft, die den freien Handel vor Gewalt schützt.

 

Jede Gesellschaft hat folglich im Blick auf Herrschaft und Wirtschaft einigen Erklärungs-, Verhandlungs- und Legitimationsbedarf. Jeder Mensch möchte begreifen und verstehen, wer was zu sagen hat und wie er seinen Lebensunterhalt und seine Daseinsvorsorge sichern kann, welche Regeln gelten und in welcher Ordnung er sich orientieren soll. Jede Gesellschaft ist also außer von Armut und Gewalt auch von Irrtümern, Missverständnissen, Lügen, Intrigen, geistiger Verwilderung, Verrohung oder Erstarrung bedroht. Das Mittel, dem zu widerstehen, nennt Norbert Elias symbolische Kommunikation. Menschen schaffen nicht nur Ordnung, Menschen wirtschaften nicht nur, sondern sie müssen sich von der Sinnhaftigkeit ihrer politischen, ökonomischen und kulturellen Praktiken auch immer wieder überzeugen. Sie erschaffen sich dazu eine symbolische Ordnung. Ein Beispiel für die symbolische Kommunikation im Bereich der Herrschaft ist die Uniform. Richter, Polizisten und Soldaten müssen ihre Rolle im Rahmen eines staatlichen Gewaltmonopols nicht durch ständige Paraden oder gar manifeste Gewaltausübung demonstrieren. Sie sind für jedermann durch ihre symbolische Kleidung sofort erkennbar und werden respektiert. Und niemand muss umständlich Körbe voller Wolle und Kannen voller Milch auf den Markt schleppen. Es gibt handliche Münzen und Scheine und andere vertrauenswürdige Zertifikate, um komplexeste Tauschvorgänge zu organisieren. Die Übertragung in die symbolische Form des digitalisiert gespeicherten Buchgeldes ermöglicht es inzwischen, ganze Schiffsladungen und Häuserzeilen mit einem Mausklick an jedem beliebigen Ort der Zivilisation zu kaufen oder zu verkaufen.

 

Die symbolische Kommunikation schließlich über symbolische Kommunikation in Form von Sprache, Mythos, Religion, Kunst, Wissenschaft ermöglicht zwischenmenschliche Interaktionen in großer Komplexität. Wissenschaften z.B. im strengen Sinne beschränken sich auf die Aufstellung und Überprüfung von Wenn-Dann-Beziehungen. Aus unübersichtlichen Verläufen, in denen immer auch alles hätte anders kommen können (Kontingenz), werden über hochreduzierte und minutiös kontrollierte Versuchsanordnungen diejenigen Gesetzmäßigkeiten herausgefiltert, die zu gesicherter und widerspruchsfreier Erkenntnis, Prognose und Planung berechtigen. Von Mythen und Religionen dagegen wird zwar ebenfalls Auskunft über gewisse Gesetzmäßigkeiten erwartet, ihrem Wesen nach aber sollen sie Kontingenz in Schicksal verwandeln. Was Menschen widerfährt und ihnen bedeutsam erscheint, erheben sie selektiv und produktiv zu einem Teil ihrer Geschichte, zu ihrem Schicksal. Das zieht den Vorschlag nach sich, solchen Praktiken das Prädikat „religiös“ zu geben, in denen Menschen schicksalhaften Begebenheiten einen bildhaft-metaphorisch vermittelten Sinn beimessen und starke, umfassende und dauerhafte Stimmungen und Motivationen dadurch erzeugen, dass sie Erzählungen und Bilder zu einer entsprechenden Seinsordnung zusammenstellen und verbreiten. Dabei können Götter und Heroen vorkommen, müssen aber nicht. In eher begrifflicher Form tragen solche Deutungen den Namen „Philosophie“ oder „Weltanschauung“. Von „Mythos“ und „Religion“ oder „Kunst“ sprechen wir dagegen, wenn eher bildliche Formen gewählt werden. Alles zusammen wird zu „Kultur“. Die Kunst z.B. ist dann „modern“, wenn sie nicht mehr wie bis weit in die Neuzeit hinein der Religion oder der Politik bestellte Bilder liefert, sondern ihre Autonomie von Religion, Politik und Wirtschaft erringt. Sie weist dadurch der Religion und der Wissenschaft den Weg, auch ihrerseits nach Autonomie zu streben.

 

Mit Norbert Elias lässt sich nun die These entwickeln, eine Gesellschaft sei umso zivilisierter, je mehr es ihr gelingt, Herrschaft und Allokation in symbolische Kommunikation zu übersetzen. Der Kampf der Waffen auf dem Gefechtsfeld wird übertragen in den Kampf der Stimmen im Parlament. Die Erfindung des Geldes und des Kredites eröffnet die Möglichkeit, Versprechen und Wetten auf zukünftige Gewinnerwartungen zu handeln. Die Arbeitskraft von Mensch und Tier wird durch energiegetriebene motorisierte Maschinen ersetzt, die Vorherrschaft der Rohstoffgewinnung und -verarbeitung weicht zunehmend der Dienstleistung und der Verarbeitung von Information. Als Prozess verstanden beschreibt der Begriff Zivilisation im Sinne einer soziokulturellen Evolution also mehr als nur zunehmende Affektkontrolle. Das auch, aber wichtiger noch ist die Ausdifferenzierung und Befreiung menschlicher Praktiken aus dem Gefängnis materieller oder auch dogmatisch behaupteter Notwendigkeiten in die Weite und Offenheit vielfach gegliederter und gefächerter und immer komplexerer Deutungsebenen.

Bedeutet „zivilisiert“ im Sinne von Elias immer auch einen höheres „ethisches“ Niveau? Ist der zivilisierte Mensch dem unzivilisierten Menschen moralisch überlegen? Auch wenn ich die Prädikate „moralisch“ und „ethisch“ bisher noch nicht näher bestimmt habe, lässt mich meine Intuition hier zweifeln oder zumindest innehalten. Vielleicht kann an dieser Stelle eine erste Verhältnisbestimmung von Geschichte, kultureller Evolution und Ethik etwa so lauten: Die Prädikate „zivilisiert“ und „kultiviert“ subsummieren zeitlos gültige normative Ansprüche und Erwartungen. Je nachdem, wie diese dann erfüllt werden, fällt das Urteil über die betreffende Zivilisation oder Kultur aus. Sie gilt dann als hochstehend, vorbildlich und blühend oder als primitiv, wild, brutal und barbarisch oder als etwas dazwischen. Normative Ansprüche an einzelne Erscheinungen können auch in Relation zum jeweiligen Entwicklungs- und Erkenntnisstand ihres Zeitalters erhoben werden. Den Maßstab liefern dann zeitgenössische Stimmen, die jene Erscheinung bereits zu ihrer Zeit kritisch bewerteten, sich entsprechend engagierten und sich angesichts von Missständen mit Lob oder Tadel, mit Reformvorschlägen oder anklagend zu Wort meldeten. Auch dann aber bestimmt ein überzeitlicher Maßstab das Urteil, nur eben vermittelt über Zeitzeugen. Schließlich kann der Sinn eines ethischen ebenso wie eines ästhetischen Urteils über eine ferne oder längst vergangene Konstellation der Geschichte dazu dienen, sie künftigen Generationen als positives oder negatives Vorbild und Reservoir von Ideen vorzustellen.

 

Denn worin besteht denn der Sinn von Geschichte? Wenn exakte historisch-kritisch-selbstkritische Forschung sich Quellen und zu diesen immer wieder neue Quellen verschafft, die sie mit wissenschaftlichen Methoden sichert, systemisch abwägend einordnet und interpretiert, so ist sie sich doch längst darüber im Klaren, dass sie ihre Quellen und Themen aus dem unüberschaubaren Strom der Ereignisse stets einem bestimmten systematischen Ansatz und Interesse folgend auswählt und auch dann niemals alles, sondern nur dies und jenes von ihnen erzählen kann. Anders würde sie ja nie fertig werden, sondern müsste irgendwo ohne Angabe von Gründen abbrechen. Das den Quellen verpflichtete realistische und das sie beherrschende formgebende Moment sind vom Historiker ständig gegenseitig auszutarieren; und jede historische Aussage bleibt Hypothese.[7] Aber zu welchem Zweck? Menschen erforschen die Geschichte bis hin zur Geschichte der Natur[8], weil sie sie verstehen wollen. Warum wollen sie sie verstehen? Warum macht sich der Geograph weit über jede praktische Nutzanwendung hinaus ein räumlich und zeitlich umfassendes und detailliertes Bild unseres Heimatplaneten, warum erforscht der Astronom fernste Winkel des Weltalls, warum rekonstruiert der Historiker die Geschichte sogar längst versunkener Völker? Ist es die allgemeine dem Menschen von Aristoteles attestierte „Liebe zu den Wahrnehmungen“? Lieben wir das Vergangene völlig selbstlos um des Vergangenen willen? Darf einfach nur nichts verloren gehen? Möchten wir einfach nur wissen, wie eine Geschichte ausgeht? Oder sollen wir uns lieber vital und entschlossen zu einer bestimmten Gestalt der Geschichte bekennen, um in einem Jüngsten Gericht jenseits der Geschichte auf der richtigen Seite zu stehen? Oder sollen wir uns davor besser hüten? Sehen wir uns vielleicht für die Bewährung in der Wirklichkeit besser gewappnet, wenn wir den Spielraum des Möglichen weitest möglich überblicken? Wollen wir unseren eigenen Platz in Raum und Zeit bestimmen, um unseren Spielraum zwischen Notwendigkeit und Freiheit auszuleuchten?[9] „Geschichte“ ist eine völlig andere Art von Orientierungswissen als „Ethik“, mangels einer vergleichsweise schwachen Axiomatik und mangels der Wiederholbarkeit ihrer Versuchsanordnungen auch ein völlig anderes deskriptives Wissen als das der Naturwissenschaften. Aber sie ist, wie ich meine, auch Orientierungswissen. Denn was immer wir in den Status von „Quellen“ erheben, wird damit zu einem Teil unserer Gegenwart. So ist schon allein deshalb der Versuch, das Vergangene zu verstehen, eine Art, die Gegenwart zu verstehen, wissend, dass wir in beiden Dimensionen sehr vieles nie verstehen werden.

 

Zurück zu den gegenwärtigen Prozessen globaler Modernisierung: Der Prozess der Zivilisation trägt heute vielfach den Namen „Modernisierung“, als sein erfolgreichstes Modell gilt manchen „der Westen“, der von Anderen dagegen als Modell der Dekadenz gegeißelt wird. Nun vermittelt die Geschichte des Westens, der ja bekanntermaßen längst auch Enklaven wie Dubai und Singapur einbezieht, tatsächlich vielfach den Eindruck einer Überwältigung der Politik und der Gesellschaft durch die Ökonomie. Alimentieren nicht immer weniger industrielle Zentren einen immer größeren kulturellen Überbau? Verdrängt nicht längst das Geld das Recht und die Überzeugung aus dem Dreigestirn der klassischen Mittel der Politik? Brauchen reife Industriegesellschaften folglich Politik nur noch als Agentur für den Transfer von Schweigegeld für den Verzicht auf Teilhabe an den Entscheidungen der Managereliten? Reicht es nicht aus, Konflikte, die außerhalb der „westlichen“ Stabilitätsräume regelmäßig zu Gewaltexzessen anschwellen, an Entwicklungs- und Militärdienstleister zu delegieren, die sie wieder auf ein Maß unterhalb der medialen Wahrnehmungsschwelle im Stabilitätsraum senken? Wer sich einem ökonomistischen Weltbild[10] verpflichtet fühlt, wird diese Einschätzungen nicht nur bejahen, sondern auch begrüßen: So ist es, und so ist es auch gut so. Nachdenklicher antworten diejenigen, die eine wechselseitige Abhängigkeit der Funktionsfelder im Prozess der Zivilisation annehmen. Kein Feld kann seine Komplexität dauerhaft erfolgreich erhöhen, wenn die anderen Felder nicht irgendwann nachziehen. Verdanken sich die enormen ökonomischen Komplexitäts-steigerungen in den westlichen Gesellschaften in der zweiten Hälfte des 20. Jhdts. nicht dem Erfolg der komplexen zwischenstaatlichen Gewaltverregelung im VN-System seit 1945? Können sich industriegesellschaft-lich verfasste Wohlstandsinseln wirklich dauerhaft in einem Meer des Elends halten? Und will „das Kapital“ wirklich solange von Insel zu Insel ziehen, bis auch die letzte „verbraucht“ ist. Von wem wollen sich die ökonomischen Eliten mit „Politik“ und „Bildung“ beliefern lassen, wenn nicht von denen, die auch den ökonomischen Prozess aufklären, ihn vor sich selbst schützen und sich seiner externalisierten Kosten annehmen und sie der Bewältigung zuführen? Selbst wenn das Geld tatsächlich phasenweise das Recht und die Überzeugung ersetzen oder „kaufen“ kann, so werden doch auch diese Phasen zu Ende gehen. Dann sind diejenigen Gesellschaften gut beraten, die Zivilisationstechniken aus anderen Sphären aufbewahrt und gepflegt haben.

 

Der Prozess der Zivilisation verläuft nicht stetig in eine Richtung. Ob wir z.B. von der Antike bis in die Neuzeit von einer Zunahme an Zivilität, gemessen z.B. an einer Absenkung der Gewaltamplitude, sprechen können, ist umstritten und anhand historischer Quellen wohl auch kaum entscheidbar.[11] Denn mit dem Gewinn der Komplexitätssteigerung sind stets große Gefahren der Komplexitätsvernichtung verbunden, die die Modernisierungsgewinner gerne übersehen. Die moderne Neurobiologie legt zwar den Schluss nahe, dass der Mensch seiner Natur nach tatsächlich primär auf Vertrauen und friedliche Kooperation angelegt ist.[12] Fortschritte in der Vergemeinschaftung und der symbolischen Kommunikation lösen jedoch oftmals auch einen Gewaltanstieg aus, der dann wiederum durch Vergesellschaftung verregelt werden muss. Die pessimistische Sicht auf den Urzustand und die optimistische Sicht auf den Staat bei Hobbes und die genau umgekehrte Gewichtung bei Rousseau haben also beide ihr relatives Recht. Und sicherlich sind Erfahrungen von Gewalt und Anstrengungen zur Einhegung von Gewalt gewiss zutiefst miteinander verflochten. Das berechtigt jedoch nicht zu dem naturalistischen Fehlschluss, die Kriege der Menschheit seien gut für den Prozess der Zivilisation[13] und z.B. der Holocaust gut für die Gründung des Staates Israel gewesen. Ebenso könnte man behaupten, auch eine Naturkatastrophe wie das Erdbeben von Lissabon im Jahr 1755 hätte nachträglich einen Sinn bekommen, wenn es bereits damals die Bemühungen zu erdbebensicherer Bauweise befördert hätte. In solchen Fragen gehört jede Silbe auf die Goldwaage. Aus der Rückschau lässt sich sagen „Ihr gedachtet es böse mit mir zu machen, Gott aber gedachte, es gut zu machen“ (Gen 50, 20). Woher aber nimmt man dann die Kriterien für die Unterscheidung von gut und böse?

 

Besonders alarmierend für unsere moralische Intuition ist es, wenn die Barbarei im Feld der symbolischen Kommunikation selbst um sich greift, wenn Physiker ihre Forschungsergebnisse dazu nutzen, Massenvernichtungswaffen zu entwerfen, wenn Richter rechtsförmiges Unrecht sprechen, wenn Kaufleute riskante Wetten zu seriösen Gütern umdeklarieren, wenn Journalisten ihre Nachrichten nicht kritisch recherchieren, sondern im Auftrag und auf Bestellung der Mächtigen erfinden, wenn Priester und Philosophen Legitimität dem Meistbietenden andienen oder Konflikte mit Hasspredigten anheizen? Was ist, wenn die Hüter der Gerechtigkeit jede Individualität ersticken? Was ist, wenn die Hüter der Freiheit nur ihre eigene meinen? Was ist, wenn Religion in Völkermord umschlägt? Was ist, wenn ein freiheitlich demokratischer Westen auf Kosten von drei Vierteln der Weltbevölkerung lebt?

 

Dann wird Wissen zum Fluch, das Urteil ein Verbrechen, die Ware ein Betrug, die Nachricht eine Lüge, das Gebet ein Dogma, und aus Zivilität wird Barbarei. Dann zeigen sich nicht nur hier und da oberflächliche menschliche Schwächen und einzelne Fehlentwicklungen, vielmehr breitet sich die Barbarei bereits tief und radikal in der Sphäre der grundlegenden Prinzipien aus. Kostbare Ideale werden unter der Hand in ihr Gegenteil verkehrt. Der Krieg in den Köpfen und die Vergiftung der Seelen können den Prozess der Zivilisation regelrecht umkehren, so dass alsbald wieder jeder gegen jeden ums nackte Überleben kämpft.

 

Gegen die Pervertierung von Wirtschaft und Herrschaft kann symbolische Kommunikation helfen. Gegen die Pervertierung der symbolischen Kommunikation gibt es aber kein anderes Mittel als wiederum nur symbolische Kommunikation. Aufklärung ist der Name der Medizin gegen diese Krankheit. Die Geschichte der Zivilisation muss deshalb in immer neuen Renaissancen immer wieder neu erzählt und gelegentlich sogar in einen Kanon Heiliger Schriften gegossen werden[14] von der hebräischen Bibel oder der Baghavad Gita bis zum Koran, vom mesopotamischen Gesetz des Urukagina (um 2360 v. Chr.) bis zur Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte. Und alles steht und fällt damit, wie diese Geschichte erzählt wird. Denn wer erzählt, muss stets mehr weglassen, als er mitteilen kann, er muss auswählen. Und wer auswählt, muss erklären, wonach er auswählt. Auswählen, stilisieren, interpretieren muss jeder Erzähler, aber nicht alle sind so ehrlich, dass sie das sichtbar machen.

 

 

3. Gegen den Absolutismus der Symbole

 

Der Ägyptologe Jan Assmann erinnert in seinen Arbeiten zu Monotheismus, Gedächtnis und Trauma daran, dass Sigmund Freud in seinem Buch „Der Mann Moses“ die Frage stellte, wie ein solch problembeladener Religionstyp wie der Monotheismus nur derart erfolgreich werden konnte.[15] Denn der selbstkritisch-tragische Charakter der monotheistischen Religionen ist tatsächlich kaum zu überbieten. Freud versuchte zur Erklärung ebenso aufwendig wie vergeblich, die paläoanthropologische These vom Vatermord in der Urhorde aufzurichten. Laut Assmann hätte Freud nur das tun sollen, was seine Psychoanalyse doch auszeichnet, nämlich seinem Patienten aufmerksam zuhören. Man erwäge nur jene Szene am Ende der Wüstenwanderung im Deuteronomium: Moses, gewiss, das gelobte Land selbst nicht mehr zu erleben, schwört sein Volk noch einmal geradezu verzweifelt auf das Gesetz ein (vgl. 5. Mose 6, 4 ff). Wer zur Freiheitssicherung einen solchen Aufwand treiben muss, weiß offensichtlich bereits, dass seine Mahnungen nichts fruchten und das Volk im neuen Land bereits nach der ersten Wegbiegung alles vergessen und sich den Göttern und Abhängigkeiten der Kulturlandschaften, also jenem Absolutismus der Wirklichkeit hingeben wird. An mehr als einer Stelle möchten die Israeliten Moses am liebsten erschlagen. Hier ist der Vatermord, nach dem Freud gesucht hat. Assmann sieht Parallelen zum allerersten monolatrischen – und damit gegen andere Kulte prinzipiell intoleranten – Kult, dem Aton-Kult des Pharao Echnaton im alten Ägypten. Der habe bereits einen solchen Hass ausgelöst, dass man nach seinem Tode sämtliche seiner Spuren aus der ägyptischen Kultur ausrottete. Erst im 19. Jhdt. wurden seine Zeugnisse von den Archäologen wiederentdeckt!

Die Einzigkeit und Unanschaulichkeit Gottes ist schon den Alten eine Zumutung gewesen. Uns Heutigen nötigen technische Naturbeherrschung, wirtschaftlicher Erfolg, staatliche Ordnung und bürgerliche Moral in noch einmal gesteigertem Maße Triebverzicht um Triebverzicht ab. Und es ist insbesondere die entsprechende Art der Religion, die mit ihrem unerbittlichen Erlösungspathos eben das zu ersticken droht, was sie doch eigentlich befördern will, eine menschenfreundliche Kultur, frei von Not und Furcht. Friedrich Schiller entwickelt im 4. Brief seiner „ästhetischen Erziehung des Menschengeschlechts“ folgende anschauliche Gegenüberstellung: Er unterscheidet die Wilden und die Barbaren. Bei den Wilden, so Schiller, herrschen die Gefühle über die Gesetze.[16] Das sind z.B. die Israeliten, die kanaanäische Frauen heiraten, lau in Milch und Honig baden und sich den Mythen des Alltags hingeben. Mit ihnen hat Schiller noch Sympathie. Schlimmer ist es mit den Barbaren. Bei ihnen zerstören die Gesetze die Gefühle. Das sind ein Mose, der das Bild vernichtet und ein Elia, der die Baalspriester schlachtet. Bündiger kann man die diversen monotheistischen Kulturkatastrophen – bis hin zum Bildersturm der Reformation und zu den neuzeitlichen Personenkulten – nicht auf den Begriff bringen. Gegen die Macht der Bilder die Macht des einen barbarischen Hyperbildes? Gibt es keinen dritten Weg? Wie weit sollen rationale Systemansprüche getrieben werden? Müssen Menschen wie ich, die bekennen, dass sie an Gott glauben, notwendig eine absolute Zentralgewalt annehmen, die von einem kosmischen Thron aus das gesamte Weltgeschehen observiert, kontrolliert und steuert? Der Gott des Exodus verhärtet und erweicht das Herz des Pharao nach Bedarf? Visionen vom himmlischen Hofstaat wie die im ersten Kapitel des Propheten Hesekiel oder in Psalm 82 illustrieren die entsprechende Szenerie. Bücher wie Hiob oder Jona fügen kräftige ironische bis zynische Striche ein. Die Josephsnovelle als Ziel und Höhepunkt der Genesis belässt Gott fast vollständig im Hintergrund des Geschehens. In der Paradieserzählung am Anfang der Genesis flüchtet Gott vor der Mittagshitze in den schattigen Garten. In der Sintflutgeschichte in Genesis 8 lernt Gott aus besserer Einsicht. In Psalm 82 wird säumigen Göttern das Todesurteil verlesen. In dem Hymnus im ersten Kapitel des Johannesevangeliums geht Gott den Weg in Inkarnation und Passion. All dies weist darauf hin, dass der Gott der Bibel seine Allmacht nicht anders denn in von ihm lernend gewählten „Funktionen“ ausübt. Dass er sich darin gegen einige starke Erfahrungen, aber mit anderen ebenfalls starken Erfahrungen der erfahrenen Wirklichkeit treu bleibt, darin, so die im Kanon offensichtlich manifestierte Überzeugung, besteht seine Souveränität und Herrlichkeit.

 

Was bedeutet das für die ethische Orientierung? Der christliche Apostel Paulus muss sich nicht umsonst an mehreren Stellen des Libertinismusverdachtes erwehren. Man unterstellte ihm, alles zu erlauben. Er wehrt sich und spricht von „Meinungen“, über die man nicht streiten und um derentwillen man sich gegenseitig nicht richten oder verachten soll. Es handelt sich dabei aber keineswegs um Nebensächlichkeiten, sondern um zentrale religiöse Vorschriften wie die jüdischen Speisegebote und die Sabbatheiligung, immerhin also um das dritte Gebot des Dekalogs! Wie löst er die Spannung? Ermäßigt er etwa einfach das göttliche Gesetz? Erleichtert er es um einige Gebote, um eben doch hier den Wilden und dort den Barbaren taktisch entgegenzukommen?

 

Paulus schreibt in 2. Kor 3,6: „Der Buchstabe tötet, der Geist aber macht lebendig.“ Er führt eine folgenschwere Unterscheidung ein, nämlich die zwischen dem „Buchstaben“ und dem „Geist“, eine Unterscheidung, die bei genauem Hinsehen auch schon im ersten Gebot des hebräischen Dekalogs zu finden ist. Das eine ist das Zeichen, das andere das Bezeichnete. Und auf das Bezeichnete kommt es an. Das ist ein möglicher Sinn des Bilderverbots. Der über den Mythos hinausgehende Sinn der Religion – und hier folge ich der Philosophie der symbolischen Formen des Hamburger Philosophen Ernst Cassirer – beruht auf der Erkenntnis, dass die Bilder Bilder sind.[17] Nur so werden wir nicht von der Übermacht unserer mythischen Erzählungen wie von einer absoluten Macht in den Bann geschlagen. Gerade die den inneren Menschen – das Ich – verdichtende, schützende und in seinem Innersten stabilisierende Funktion des Monotheismus kann nämlich in den gefährlichsten, weil religiös aufgeladenen Narzissmus treiben. Wenn der Begriff „Fundamentalismus“ einen Sinn macht, dann in dieser Definition: Fundamentalismus ist die verzweifelte Sorge eines Menschen um seine Identität, religiös ausgedrückt also die verzweifelte Sorge um seinen Gott. Gerade aus der Mitte der monotheistischen Religion heraus kann der Fundamentalismus geheilt werden. Denn wer ist Gott, und wer bist du, dass du dir um Gott Sorgen machen und ihn vor Blasphemie in Schutz nehmen müsstest!? Verhandele mit ihm, beschwere dich bei ihm, klage ihn an, fordere Rechenschaft, stell ihn auf die Probe, prüfe sein Orakel, zweifle an seiner Existenz oder behaupte sie, verleugne ihn heute und verkündige ihn morgen, aber was wäre das für ein Gott, der deiner Verteidigung bedürfte. Denn in die letzten Extreme getrieben, wird die Frage, ob der Glauben oder der Unglaube, diese oder jene Theorie, diese oder jene moralische Maxime, dieses oder jenes Kollektiv Recht hat, unentscheidbar. Auch als protestantischer Theologe bin ich gut beraten, alle Quellen geistlichen und ethischen Urteilens ausgewogen zu berücksichtigen: den Kanon der heiligen Schriften (Bibel), die bis heute lebendige und im „Amt“ gebündelte Tradition kirchlicher Verkündigung (Predigt und Sakrament), die wissenschaftliche Theologie in ihrem Gespräch mit allen anderen Wissenschaften (Lehre) und die Lebenspraxis der Gläubigen (Laien) einschließlich meiner eigenen.

 

Nicht, dass man sich Bilder nicht machen dürfe, sonst dürften ja weder Künstler Kunstwerke schaffen noch Wissenschaftler Theorien aufstellen noch Kinder mit Puppen spielen. Man darf ihnen nicht dienen, und schon gar nicht den religiösen Bildern. Dienen heißt hier, das Bild an die Stelle des Abgebildeten zu setzen, seinen Charakter als Bild und Zeichen zu löschen und die Adressaten statt auf das zeitlose Abgebildete auf das zeitbedingte Bild zu verpflichten. Da das Bild vergänglich ist, kann es gegen den Strom der Zeit nur mit Gewalt konserviert und seine kollektive Anerkennung nur mit Gewalt erzwungen werden. Wer Bilder aufrichtet, um Menschen mit Inszenierungen heiliger Gewalt bis in die Intimität ihres Lebensgefühls hinein in Angst und Schrecken zu versetzen, zu bannen und niederzuwerfen, bedroht ihre Menschlichkeit im Kern. Als so missverstandenes „Gesetz“ tötet das Bild. Deshalb ist nicht nur dieses oder jenes Einzelgebot, sondern das gesamte Gesetz samt Evangelium mit all seinen Buchstaben ein historisch zu interpretierendes und gesellschaftlich zu gestaltendes und zu pflegendes „Bild“, mit dem wir untereinander über die durchaus ewige Wahrheit Gottes kommunizieren sollen. Aber „dienen“ sollen wir diesen Bildern nicht, denn sie dienen uns: Der Mensch ist nicht für den Sabbat, sondern der Sabbat ist für den Menschen geschaffen. Dies gilt für alle Gebilde der Kultur einschließlich der Religion.

 

Was bedeutet dies alles nun im Blick auf die Einheit und Vielfalt des Orientierungswissens in der menschlichen Kultur? Nach dem 11. September 2001 und dem dadurch beflügelten Wort vom „Kampf der Kulturen“[18] dürfte es erneut wichtig sein, Sinn und Grenze religiöser, kultureller und ethischer Toleranz zu benennen. Dabei möchte ich mich orientieren in einem Spannungsfeld der menschlichen Kultur zwischen Vielfalt und Einheit. Zunächst zur Vielfalt menschlicher Kultur: Die Religion, Kultur und Moral des Anderen ist zu achten. Was wäre denn die Alternative? Sollen Judentum und Islam, Hinduismus und Buddhismus von Christen als menschheitsgeschichtliche Unfälle und Irrtümer abgefertigt werden? Soll der Islam den Hinduismus und Buddhismus als Götzendienst und Judentum und Christentum als verfälschte und überholte Offenbarungen betrachten? Wollen 1,2 Milliarden Muslime das Christentum mit seinen aktuell 2 Milliarden Mitgliedern sowie das Judentum mit 14 Millionen gedanklich ernsthaft aufs weltgeschichtliche Altenteil abschieben? Wollen sie ernsthaft mit der Vorstellung leben, die 850 Millionen Hindus und die 360 Millionen Buddhisten seien samt und sonders Teufelsanbeter und deshalb minderwertig? Und wollen umgekehrt alle 2 Milliarden Christen die übrigen 5 Milliarden Menschen wirklich entweder als Adressaten christlicher Mission oder als verstockte Heiden abhandeln? Und glauben die Säkularisten aller Couleurs tatsächlich, die politischen Ansprüche der Religiösen aus der gesellschaftlichen Öffentlichkeit und aus dem politischen Prozess ausgrenzen zu können, ohne dass sich an den Stammtischen die Semantiken des Populismus und in der Armut und Isolation der Hinterhöfe die terroristische Gewalt ausbreiten?

 

Wie wäre es, wir einigten uns darauf, universale Wahrheitsansprüche nicht nur privat, sondern durchaus öffentlich zu vertreten, ohne sie als solche aber zur politischen, rechtlichen oder moralischen Entscheidung zu stellen. Über die Wahrheit kann man nicht abstimmen. Dabei sollen wir durchaus anstreben, die gesellschaftlichen Konsequenzen unserer Überzeugungen im politischen Prozess durchzusetzen, dies aber ohne das Gewicht zeitloser religiöser Wahrheitsansprüche, sondern nur soweit und solange sich dafür Mehrheiten finden lassen. Und dies ist kein Bekenntnis zum beliebigen Wechsel religiöser Überzeugungen, sondern zu den legitimen Folgen der Säkularisation. Wie wäre es, wir betrachteten die Emanzipation der symbolischen Kommunikation von ihren Wurzeln im Mythos und ihre Auffächerung in Sprache, Wissenschaft, Kunst, Religion, genannt Säkularisation, nicht als Abfall von der Religion, sondern als bereits im Mythos angelegte legitime Folge. Der Glaube bahnt der Vernunft den Weg, aber er ersetzt sie nicht. Auch die Vernunft geht ihren Weg, sie ersetzt den Glauben nicht. Es beginnt bereits damit, dass die Religion neben ihrer heiligen und mythischen Sphäre eine rationale weltliche Sphäre des Alltags – des Handwerks, der Wissenschaft, des Handels, der Politik – nicht nur zulässt, sondern unterstützt und befördert. Nimmt ein starker Glaube das ernst, dann kann er in der Weite einer globalisierten Welt die Fülle symbolischer und kultureller Formen zulassen und aus ihnen sogar lernen. Ein aufgeklärter Universalismus ebnet Unterschiede nicht ein, sondern lässt sie nebeneinander stehen und schöpft aus ihnen.

 

Da wir aber auch um unserer inneren Klarheit, konsistenten Wirklichkeits­deutung, verlässlichen Institutionenbildung und einer tragfähigen Ethik willen von einer Einheit menschlicher Zivilisation ausgehen müssen: Sollen wir also denken, alle Mythen und Religionen meinten am Ende alle denselben einen Gott? Das würde zu den bestehenden nur eine weitere Religion hinzufügen und dürfte weder unserer Überzeugung noch der anderer Kulturen entsprechen. Soll nicht der Christ leidenschaftlich davon überzeugt sein, dass im Evangelium Jesu Christi und nirgendwo sonst die Wahrheit der Welt für alle Völker beschlossen ist? Soll nicht der Muslim Mohammed für das endgültige „Siegel der Propheten“ betrachten? Haben nicht Atheisten außer- und innerhalb ihrer „Konfession“ vergleichbare Probleme zu lösen?

 

So sehr wir Wahrheitsansprüche im öffentlich Raum begrüßen, so wenig können wie bei Gefahr des Religionskriegs ihre mit den Mitteln weltlicher Macht erzwungene Anerkennung dulden. Religion gründet nicht nur wie das Recht in einem Gewaltverzicht, sondern anders als das Recht verzichtet sie auch in ihrer Erhaltung konsequent auf Gewalt. Es gibt eine Ethik rechtserhaltender Gewalt, aber keine Ethik religionserhaltender Gewalt. Je mehr symbolische Formen sich in Recht, Politik, Technik, Wirtschaft ausdifferenzieren, desto mehr sind offene oder sublime Formen von Gewalt nachweisbar, charakteristisch und legitimierbar. In den axiomatischen Verdichtungen in Mythos, Sprache, Kunst und Religion aber ist Gewalt so radikal knapp zu dosieren, dass die Freiheit, für die sie stehen, nicht wieder aufs Spiel gesetzt wird. Nur der Mythos, die Religion und, wie ich meine, auch die Kunst dürfen Wahrheitsansprüche stellen. Milliardenschwere Märkte für Religion und Kunst sind Widersprüche in sich selbst. Wer Wahrheit sagt, darf dies nur, solange er dabei auf direkte politische Machtansprüche verzichtet, seine ökonomische Macht gering hält, sich auf Bildung konzentriert und in der Tendenz den Weg der Passion wählt. Die ausdifferenzierten Einzelsphären dürfen sich nicht die Rolle von Mythos, Religion und Kunst anmaßen, und diese dürfen sich nicht an die Stelle des Ewigen setzen. Die Mitte des Rades der Zivilisation lassen wir leer. Nur die regulativen Ideale des Wahren, Schönen und Gerechten, nur Gottes Recht und Gerechtigkeit sollen sie füllen. Darin ist der konsequente Monotheismus ein praktizierender Atheismus. Erich Zenger nennt in seinem Psalmen-Kommentar Psalm 82 den aufregendsten Text der ganzen Bibel:

 

Ein Psalm Asafs

Gott steht da in der Gottesversammlung,

inmitten der Götter hält er Gericht:

»Wie lange noch wollt ihr unheilvoll richten

und die Gottlosen begünstigen?

Verhelft zu ihrem Recht den Kleinen und den Waisen,

den Elenden und den Bedürftigen verschafft

Gerechtigkeit,

rettet die Kleinen und die Armen,

der Gewalt des Todes entreißt sie!«

Sie haben weder Erkenntnis noch haben sie Einsicht,

in der Finsternis wandeln sie,

es wanken alle Fundamente der Erde.

»Ich habe zwar gesagt: ›Götter seid ihr

Und Söhne des Höchsten allesamt!‹

Doch nun: Wie Menschen sollt ihr sterben,

und wie einer von den Fürsten sollt ihr fallen!«

Steh auf, Gott, übernimm das Richteramt über die Erde,

denn dir sind alle Völker zu Eigen.[19]

 

„Hier werden Götter zum Tode verurteilt, weil sie sich nicht für die Armen und Kleinen einsetzen“.[20] Ein „wahrer“ Gott und eine „wahre“ Religion dienen nicht ihrer Selbsterhaltung, sie mögen gedeihen oder untergehen, wenn nur das Recht lebt, das sie bezeugen. Und das wählt die Gestalt seiner Offenbarung und Verwirklichung frei.

Auf der moralisch-intuitiven und individuell-emotionalen Ebene kommunizieren wir mit Mythen. In der Ethik ziehen wir aus ihnen Argumente, die dann im gemeinsamen Urteilen den Ausschlag zum gesellschaftlich abgestimmten Handeln geben. Im politischen Raum organisieren und koordinieren wir Interessen. Ich meine hier Politik im erweiterten Sinne. Das schließt auch die gesamte Ökonomie mit ein. Sobald es um erhebliche Anliegen und hohe Erwartungen geht, gehen wir in den Modus des Rechtes. Gefährlich wird es immer dann, wenn Mythos und Religion unkritisch in die Moral, in Politik und Ökonomie und Recht hineinstrahlen und dort die Argumente verdrängen. Es muss aber eine Sphäre geben, in der wir unsere Intuitionen, Emotionen und moralischen Prägungen empfangen und ausbilden. Und das sind Mythos, Religion und Kunst. Zu ihnen gehört übrigens auch die Musik. Zwischen dem axiomatischen Zentrum und der ausdifferenzierten Peripherie gibt es fließende Übergänge. Denn Religion und Kunst müssen immer auch organisiert werden. So verwandelt die Ethik moralische Intuitionen und Gewohnheiten in Argumente, so wie die Partitur Instrumentierungen und Intonationen in einer Symphonie bestimmt. Politik, Recht und Ökonomie können diese dann immer wieder neu rekapitulieren und mit Geld und Recht befristet gesellschaftlich verbindlich machen.

 

 

4. Weltverantwortung

 

Eine weitere epochenübergreifende soziologische These neben den genannten von Norbert Elias besteht – im üblichen „Soziologen-Chinesisch” formuliert – darin, dass sich gesellschaftlich institutionalisierte Praktiken in Krisen immer wieder durch Interaktion unter Anwesenden regenerieren. Institutionen sind Sätze von Regeln und Ressourcen, auf die sich Menschen in ihrem Denken und Handeln gemeinsam beziehen. Wenn diese im Prozess der Zivilisation erschüttert werden, werden die Ressourcen gesichtet und die Regeln auf die Tagesordnung gesetzt. Die Individuen treten zusammen, und wer selbst nicht anwesend sein kann, wird durch Andere repräsentiert. Und je tiefer eine Krise reicht, desto weiter müssen die Betroffenen an die Anfänge zurückgehen, um sich persönlich zu engagieren und gewissermaßen noch einmal zumindest gedanklich von vorne zu beginnen. Ich skizziere deshalb in meinen Essays nichts geringeres als eine übersichtliche Galerie von „Geschichten der Menschheit“ und dies unter dem Eindruck erheblicher Krisenphänomene, die ich im Essay zum Thema Politik angedeutet habe. Um dabei gleich von Beginn an einen Bezug zur Ethik herzustellen, beginne ich im nächsten Schritt erst einmal möglichst konkret beim Individuum und seiner persönlichen Orientierung.

 

„Wenn dich aber dein Sohn heute oder morgen fragen wird und sagen: Was sind das für Zeugnisse, Gebote und Rechte, die euch der Herr, unser Gott, geboten hat?, so sollst du deinem Sohn sagen: Wir waren Knechte des Pharao in Ägypten, und der Herr führte uns aus Ägypten mit mächtiger Hand“ (Dtr 6, 20).

 

Jeder erwachsene Mensch macht sich ein Bild seiner Geschichte. Aus vielerlei Einzelerfahrungen, die jeder Mensch in ein immer schon vorhandenes und mitgedachtes größeres Ganzes einordnet, baut er sich seine persönliche geistige Welt auf. Jeder Mensch geht diesen Weg. Und jeder macht seine Erfahrungen und fügt seine Erfahrungen anders zusammen als Andere ihre Erfahrungen. So entstehen Bilder einer für jeden Menschen individuell bedeutsamen Gesamtheit, die Menschen miteinander austauschen, abgleichen und zu gemeinsamen Bildern und institutionellen Arrangements bis hin zu komplexen Systemen ausbauen. Je erfolgreicher jemand darin ist, desto mächtiger werden seine Bilder und treten zu denen anderer in Wettbewerb. Denn kaum etwas ist uns Menschen kostbarer, als etwas zu bedeuten und dies selbst bestimmen zu können. Denn das sagt uns, wer wir sind und in welcher Gesellschaft wir leben wollen. Ganze Epochen und Kontinente lassen wir dazu vor unserem geistigen Auge vorbeiziehen, indem wir sie gedanklich durchstreifen, umrunden, deuten und uns aneignen oder uns von ihnen distanzieren. Und das gelingt nie einem alleine. So entwickeln wir eine Vorstellung von unserem eigenen Ort, unserer Zeit und mit wem wir mehr zusammengehören und mit wem weniger, mit wem wir uns intensiv auseinandersetzen wollen und mit wem nur beiläufig. Selbst dann, wenn wir wissen, dass wir jemandem niemals persönlich begegnen werden, sind wir ihm auf diese Weise doch bereits gedanklich begegnet und stehen potentiell in Kooperation oder Konflikt mit ihm. Wen wir zu verstehen meinen, der wird für uns bedeutsam. Wer sich sogar des Weltraums, der Weltzeit und der Weltgeschichte bewusstgeworden ist, findet sich nolens volens globalisiert vor, und die Lage wird für ihn besonders kritisch. Offen ist, was er mit dieser Lage macht und was sie mit ihm macht. Er kann allen Anderen, alle Andere können ihm gleichgültig, nützlich oder gefährlich werden. Hier helfen weder naives Vertrauen noch pauschales Misstrauen. Ein großes Ganzes auch nur gedanklich an sich heranzulassen, erfordert bereits Vertrauen, Selbstvertrauen und Vertrauen in Andere. Damit bin ich noch einmal bei dem Sinn dieser Essays. Sie beanspruchen keineswegs, eine Weltgesell­schaft zu erfassen, die Geschichten der Menschheit zu einem „System“ einer Menschheitsgeschichte, Menschheitsreligion oder Menschheitsethik zusammenzustellen, sie an höchsten Ideen zu messen, ihr einen göttlichen Plan oder eine geschichtsphilosophische Notwendig­keit zu unterstellen und sie derart als sinnvoll zu erweisen. Immerhin aber halte ich sie für erläuterungsbedürftig und für erläuterungsfähig. Geht nicht auch der biblische Schöpfungs- und Geschichtsmythos so vor, dass er das große Ganze nur erzählend erläutert und nicht erklärt? Ist der Garten Jenseits von Eden nicht tatsächlich ein noch namen- und bedeutungsloser Ort jenseits von Gut und Böse? Das Potential für diese Unterscheidung ist zwar in ihm angelegt, aber es wird erst manifest, wenn das Schöpfungswort nicht mehr umstandslos wirkt, sondern auf ein Ja oder Nein stößt, wenn der Mensch erwachsen wird, den Dingen Namen gibt, zu handeln wagt und dann auch für die Folgen seiner Handlungen geradesteht und seiner Geschichtlichkeit und Sterblichkeit gewahr wird. War die antike orientalische Weisheit mit diesem Mythos nicht schon sehr nüchtern und „modern“ im Sinne einer metaphysischen Bescheidenheit?

 

 

Fazit

 

Wozu also Religion? Genauso gut könnte man fragen, wozu Mythos, wozu Sprache, wozu Kunst, wozu Erkenntnis, wozu überhaupt der Mensch? Sollte die Frage „Wozu?“ suggerieren, Religion sei etwas, dass man sich sparen könnte, dann könnte man auch gleich auf jegliche Kultur verzichten. Aber gewiss kann und soll nach der spezifischen Funktion von Religion im Gegenüber zu den Funktionen anderer symbolische Formen gefragt werden. Ernst Cassirer stellt die einzelnen symbolischen Formen gleichrangig und unvertretbar nebeneinander, keine ist irgendwann überholt, weil andere vermeintlich ihre Funktion übernehmen könnten. Jede Form erfüllt eine ihr eigentümliche Funktion. So wenig alle Menschen gleich sprachbegabt oder musikalisch, so wenig sind sie in gleicher Weise „religionsbegabt“. Aber die Religion, die sie umgibt, bewahrt und pflegt die Bilder aus weltentstehender Zeit, die wir Mythen nennen oder metaphysische Axiome oder existenzielle Deutungen oder vornormative Überzeugungen. Sie verwaltet diese besonderen Archive und sichert ihren Bestand hoffentlich gegen Missbrauch. Kann man denn Mythen missbrauchen, können Mythen pervertieren und gefährlich werden? Ja sicher, brandgefährlich, deshalb sollte es Menschen geben, die das erkennen und davor warnen. Wenn denn Mythen so etwas wie den Humus und Wurzelgrund menschlicher Kultur bilden, so muss dieser ebenso gepflegt werden wie all die Pflanzen, die aus ihm emporwachsen. Die Hervorhebung und Pflege jener Tiefenschichten „Religion“ zu nennen, ist mein Vorschlag.

 

 

[1] Vgl. Hood, Bruce (2009): SuperSense: Why We Believe in the Unbelievable, Hammersmith UK; Hendrix, Scott E. / Shannon, Timothy J. (2012): Magic and the Supernatural, Oxford UK.

[2] Vgl. Neumann, Peter H.A. (1990, Hrsg.): Religionsloses Christentum und nicht-religiöse Interpretation bei Dietrich Bonhoeffer, Darmstadt.

[3] Taubes, Jacob (1993): Die Politische Theologie des Paulus, München; Finkelde, Dominik (20072): Politische Eschatologie nach Paulus. Badiou – Agamben – Zizek – Santner, Wien.

[4] Vgl. Freund, Henning / Gross, Werner (2016): Sinnfragen und Religiosität/Spiritualität in der Psychotherapeutenausbildung, in: Psychotherapeutenjournal 2/2016, 132-138.

[5] Kracauer, Siegfried (1969): History – The Last Things Before The Last, New York NY; deutsch: (2009): Geschichte – vor den letzten Dingen (Werke Bd. 4), Frankfurt, 92-116.

[6] Habermas, Jürgen (2005): Zwischen Naturalismus und Religion, Frankfurt M.; Calhoun, Craig / Mendieta, Eduardo / VanAntwerpen, Jonathan (2013, Eds.): Habermas and Religion, Weinheim.

[7] Kracauer, Siegfried, a.a.O., 181-208

[8] von Weizsäcker, Carl-Friedrich (1948, 2006): Die Geschichte der Natur. Zwölf Vorlesungen, Leipzig / Stuttgart / Zürich.

[9] Kracauer, Siegfried a.a.O., 40-54, 72-91, 150f.

[10] Ulrich, Peter (20084): Integrative Wirtschaftsethik, Bern, 141-220.

[11] Mit Zimmermann, Martin (2013): Gewalt. Die dunkle Seite der Antike, München, 43-46 gegen Pinker, Steven (2011): The Better Angels of Our Nature: Why Violence Has Declined, London UK, New York NY; deutsch: (2011): Gewalt: Eine neue Geschichte der Menschheit, Frankfurt M.

[12] Birbaumer, Niels (2009): Neurogeschichte von Gewalt und Kriegserfahrung, in: Schild, Georg et al. (2009, Hrsg.): Kriegserfahrungen, Krieg und Gesellschaft in der Neuzeit. Neue Horizonte der Forschung, Paderborn u.a., 83-109.; Bauer, Joachim (2011): Vom Ursprung alltäglicher und globaler Gewalt, München.

[13] Vgl. Morris, Ian (2013): Krieg. Wozu er gut ist, Frankfurt M.

[14] Becchi, Paolo et al. (2012, Hrsg.): Texte und Autoritäten. Autorität der Texte, Basel.

[15] Assmann, Jan (1999): Monotheismus, Gedächtnis und Trauma. Sigmund Freuds archäologische Lektüre der Bibel, in: Internationale Zeitschrift für Philosophie 2/1999, 227-244.

[16] Schiller, Friedrich (1795): Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reyhe von Briefen, in: Fricke, Gerhard / Göpfert, Herbert (19939, Hrsg.): Friedrich Schiller. Sämtliche Werke, Darmstadt, Bd. V, 570-669.

[17] Cassirer, Ernst (1923-1929): Philosophie der symbolischen Formen, Berlin; neu ediert (19949): Philosophie der symbolischen Formen (PSF), 5 Bde., Darmstadt, PSF II, 285f.

[18] Huntington, Samuel P. (1996): The Clash of Civilizations and the Remaking of World Order, New York NY; deutsch (1998): Kampf der Kulturen. Die Neugestaltung der Weltpolitik im 21. Jahrhundert, München.

[19] Zenger, Erich (2011): Psalmen. Auslegungen, 2 Bde., Freiburg i.B., Bd.1, 326f.

[20] a.a.O., 327.