Hartwig von Schubert

Hamburg 2016

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Die Vernunft von Königsberg: ein Ideal zur Entdeckung von Idealen

 

 

Die Aufklärung aufklären

 

Von modernen Gesellschaften sprechen wir immer dann, wenn diese sich idealtypisch zu Autoren und Gesetzgebern ihrer eigenen Geschichte und künftigen Entwicklung erklären: „Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit.“ So Kant im Jahre 1784 (AA VII 2, 10). Und diesen Ausgang verbinden wir historisch in erster Linie mit der mit Christoph Columbus und Vasco da Gama einsetzenden europäischen Expansion, die längst zum Schicksal der gesamten Menschheit geworden ist.

 

Die epochale Einsicht in ungelöste Ambivalenzen und Dialektiken der Aufklärungen überzeugte Immanuel Kant (1724-1804) von der Notwendigkeit, sich über die Aufklärung aufzuklären. Denn es gab im Raum der Erkenntnis nicht nur unaufgeklärte Ränder und Reste. Es gab die Gefahr gravierender Selbstmissverständnisse des Aufklärungs­projektes selbst. Der Bauanleitung der höchst erfolgreichen modernen Wissenschaft in einer ersten Kritik stellte er deshalb den Bauplan einer modernen Ethik in einer zweiten Kritik gegenüber, um anschließend Wissenschaft und Ethik in seiner dritten Kritik der Urteilskraft zu verbinden. Aus heutiger Rückschau weisen die drei kantischen Kritiken u.a. Wege, die Differenz der beiden Hauptstämme menschlicher Geistestätigkeit, die Trennung von Sein und Sollen, von Natur- und Geisteswissenschaft (englisch: science versus humanities) zu überwinden sowie damit zugleich den Grundkonflikt zwischen frühen und späten Modernisierern zivilisiert zu entschärfen. Insbesondere die kantische Ethik bietet die Chance, eben dies in kritischer Auseinandersetzung mit den mächtigen Traditionen der Religionsgeschichte und der politischen Ideengeschichte Europas zu leisten.

Im Zeitalter der Aufklärung wurde ein ebenso dynamischer wie tragisch erscheinender Gegensatz in der Interpretation der Selbst- und Welterfahrung sichtbar: Solange sich die menschliche Vernunft an die Erfahrung hält, schreitet sie erfolgreich von Entdeckung zu Entdeckung. Indem der menschliche Forscherdrang unaufhaltsam in alle Sphären des Lebens vordringt, findet er aber immer nur vorläufige Ergebnisse, er stürzt förmlich ins Leere und verliert jeglichen Sinn, an dem er zum Ziel kommen könnte. Denn auf jede geöffnete Tür folgen weitere Türen, niemals erschließt sich das Ganze, geschweige denn der Sinn des Ganzen. Nichts ist mehr verbindlich. Neben vielem anderen verliert damit auch jede überlieferte Moral – Immanuel Kant bevorzugt den Begriff „Sittlichkeit“ – ihre Überzeugungskraft. Denn wenn es kein verbindliches großes Ganzes gibt, dann muss man darauf auch nicht mehr Rücksicht nehmen. Jeder könnte sich nun berechtigt sehen, nur noch an sich selbst zu denken, sich vielleicht noch dieser oder jener Seilschaft anzuschließen, aber selbst darin ohne Bedenken seinen Vorteil zu suchen. Denn „Cosi fan tutte!“, so machen es alle.

 

Um sich gegen diese Leere zu sichern, flüchtet die Aufklärung in Illusionen und nimmt in ihrer Ratlosigkeit „zu Grundsätzen ihre Zuflucht …, die allen möglichen Erfahrungsgebrauch überschreiten und gleichwohl so unverdächtig scheinen, daß auch die gemeine Menschenvernunft damit im Einverständnisse steht.“ Solange es alle mitmachen, lehrt eine unvollendete Aufklärung, wie ein unmündiges Kind an ein höheres Wesen zu glauben und dem König und anderen Autoritäten zu gehorchen, als regierten sie von Gottes oder des Weltgeists Gnaden. So aber stürzt die Suche nach einem metaphysischen Halt die Vernunft „in Dunkelheit und Widersprüche“, so Kant 1781 in der Vorrede zur ersten Auflage der „Kritik der reinen Vernunft“ (A VIII). Denn was immer man auf dem Wege der Erfahrung entdeckt, ist nur Gegenstand unter Gegenständen. Jede darüber hinausgehende Behauptung, dass es so etwas wie Gott, Freiheit und Unsterblichkeit, dass es einen Kosmos und einen Raum und eine Zeit mit Anfang und Ende oder einen Sinn gäbe, ja sogar dass es ein personales Selbst als Subjekt von Erfahrung und Gesetzgebung gäbe, ist mit Mitteln der Erfahrung selbst nicht denkbar, also auch nicht entscheidbar. Damit steht und fällt aber die Möglichkeit der Aufklärung und einer aufgeklärten Ethik und Politik. Sollte es letzte Grundlagen der Erfahrung in einer „Metaphysik“ geben, die der Erfahrung einen Halt und Sinn geben könnten, dann müssen diese folglich jenseits der Erfahrung liegen. Aber ohne eine Grundlage in der Erfahrung wiederum verwickelte sich eine solche Metaphysik in haltlosen Behauptungen und endlosen Streitereien. Gesucht wird also ein geordneter Weg, auch das, was „vor“ der Erfahrung liegt, was Menschen also überhaupt antreibt, Erfahrungen zu machen und sich selbst ein Gesetz zu geben, vernünftig, d.h. durchaus auch auf Erfahrung bezogen zur Sprache zu bringen.

Kant will sich und seine Zeitgenossen über die Aufklärung aufklären. Er untersucht die Konstruktionselemente menschlicher Geistestätigkeit nach ihren Funktionen und ordnet sie zu einem architektonischen Plan, der sicherstellt, dass sie im Aufbau menschlicher Kultur nicht sinnentfremdet verwendet werden und damit hoffnungslos durcheinandergeraten und vor allem nicht gegeneinander ausgespielt werden. Seine drei berühmten Fragen: „Was kann ich wissen, was soll ich tun, was darf ich hoffen?“ sind so schlicht wie umfassend und bilden einen Kreis: Erst sichern wir unser Wissen und reinigen es von allen Irrtümern. Damit ausgerüstet entscheiden wir uns, entschlossen zu handeln. Schließlich bedenken wir die so angestrebte Zukunft, und der Zirkel beginnt erneut. Jede dieser drei Fragen verlangt überdies je unterschiedliche Wege der Beantwortung.

 

In seiner „Kritik der reinen Vernunft“ von 1781 stellt Kant die „theore­tische Vernunft“ vor. Nur sie sagt uns, was wir aus Erfahrung im Sinne gesicherter Erkenntnisse wissen können. Erst 1788, in der „Kritik der praktischen Vernunft“ erläutert Kant, wozu wir als vernünftige Menschen, also nicht Gott und dem König, sondern uns selbst gegenüber zu tun verpflichtet sind. Diese Erläuterung wird schließlich durch eine Geschichts- und Religionsphilosophie ergänzt, die uns sagt, was wir vom künftigen Fortgang menschlicher Geschichte, also als Ergebnis unserer Vernunfttätigkeit realistisch erhoffen sollten.

 

 

Ein Gebäude nach zwei Plänen?

 

Mit dieser Einteilung schafft Kant zwei Baupläne, in denen das eine Vernunftgebäude zweimal auf völlig unvereinbare Weise vermessen wird. Im Bauplan des Wissens ist alles sinnlich erfahr- und kausal erklärbar, hier wird aus Prinzip nichts dem Zufall überlassen. Es herrscht das Gesetz der Notwendigkeit, ergo gibt es keine Spontaneität und Freiheit, alles erscheint determiniert; das ist das Gebiet der theoretischen Vernunft, wir würden heute sagen der MINT-Fächer: Mathematik und Informatik, Naturwissenschaft und Technik, ergänzt durch die empirischen Anteile der Human- und Sozialwissenschaften und der Ökonomik. Nach Abschluss der ersten Kritik steht Kant vor einer atemberaubenden Kulisse, in der menschlichem Forschungsdrang und Entdeckerfreude alles offensteht vom Atom bis zu den Galaxien, vom eigenen Herzschlag bis zu den Völkern am anderen Ende der Welt. Zugleich steht er aber auch vor einem Universum, das uns wie ein gigantisches, mechanisches und seelenloses Uhrwerk erscheinen muss. Denn alles was geschieht, ist Gesetzen unterworfen und kann ihnen nicht entrinnen. Und heute wissen wir: wer die Gesetze als erster durchschaut und für sich nutzt, kann alles Wasser der Welt auf seine Mühlen leiten, für andere bleibt wenig übrig. Endloser Streit ist vorprogrammiert. Für Kant aber noch bedenklicher: Die Freiheit des Individuums ist aus dem Blick geraten. Mit heutigen Worten: Technokratische Imperative kolonisieren die Lebenswelt.

 

Deshalb macht sich Kant an sein zweites großes Werk und entwirft einen Bauplan der Welt aus Sicht der praktischen Vernunft. In der steht und fällt nun alles mit dem „als ob“ spontaner Freiheit, denn man kann nur solche Wesen frei denken und nur von solchen Wesen Verantwortung einfordern, die in ihrem Verhalten nicht für determiniert gehalten werden, sondern sich selbst Zwecke setzen können und dies nach Prinzipien. Kant rechnet mit Vernunftwesen, die nicht nur einen „freien“, sondern sogar einen „guten Willen“ haben, und dies keineswegs als spekulatives Glasperlenspiel, sondern im schlüssigen Vollzug. Das idealistische Projekt einer freien Weltgesellschaft und eines unbefristeten Friedens ist endgültig die Vision des großen Preußen. Aber kann auch sie nicht nur allzu leicht als gigantisches, wenn nicht gefährliches Blendwerk abgewiesen werden kann, hinter dem sich banale Interessen listig verbergen?

 

Ein und dasselbe Gebäude soll also nach zwei unvereinbaren Plänen konstruiert sein, einmal wird alles strenger Kausalität unterworfen, dann alles der kühnen Idee der Freiheit verpflichtet? Und beide haben überdies je ihre eigenen inneren Ambivalenzen. Und wer will beantworten, welche der beiden Perspektiven denn nun je und je den Ausschlag haben soll?

 

Das Ergebnis ist unbefriedigend. Nach den ersten zwei großen Kritiken veröffentlicht Kant 1790 eine dritte: Ein noch einmal gesondertes Vernunftvermögen, genannt Urteilskraft, soll zwischen der theoretischen und der praktischen Vernunft vermitteln, denn die Freiheit als Vermögen, selbstverantwortlich zu handeln, ist ein Postulat (= eine „als ob“ - Unterstellung) und kein Gegenstand der sinnlichen Erfahrung, sie kann also von der theoretischen Vernunft weder gefunden noch verfehlt werden. Weil die Freiheit sich aber dennoch in der sinnlich erfahrbaren Welt verwirklichen soll, bindet die Urteilskraft das kausaldeterministisch erklärende Naturgesetz auf der einen Seite und das auf frei gewählte Anerkennung zielende Moralgesetz auf der anderen Seite in einer dritten Figur zusammen, nämlich des organisch und kunstvoll Zweckmäßigen. Der Begriff der Selbstorganisation bindet kausaldeterminierte Abläufe ein in die Vorstellung von einem Organismus, der „sich“ entwickelt. Die „Kritik der Urteilskraft“ wurde u.a. zu einem Kultbuch der deutschen Romantik.

 

Die drei Kritiken und das Gebäude einer aufgeklärten symbolischen Ordnung noch einmal im Überblick:

  1. Was kann ich wissen? Die Kritik der reinen Vernunft von 1781 erhebt mit der subjektivistischen Wende das Experiment zum Standardmodell wissenschaftlicher Erkenntnisgewinnung. Physik, Chemie, Biologie und die empirischen Anteile der Human- und Gesellschaftswissenschaften können sich damit ungestört ihrer Aufgabe widmen, die Regeln der Logik und der Mathematik für die Erfahrung der Wirklichkeit nutzbar zu machen. Damit ist endlich auch der Unterschied geklärt zwischen den Gegenständen der theoretischen Vernunft und den regulativen Idealen der reinen Vernunft. Ich, die Welt oder Gott weisen der Erfahrung den Weg, sind aber nicht selbst deren Gegenstand.
  2. Was soll ich tun? Und was darf ich hoffen? Die Kritik der Praktischen Vernunft von 1788 begründet und entwickelt den Begriff der Sittlichkeit im Rahmen einer Individualethik ausschließlich aus der Idee des inneren freien Willens und das Recht und den Staat im Rahmen einer politischen Ethik ausschließlich aus der Idee der äußeren Freiheit aller Vernunftwesen. Wissenschaften wie Theologie, Philosophie, Gesellschafts-, Rechts- und Staatswissenschaften und die Human- und Sozialwissenschaften in ihren normativen Anteilen können sich nun ebenfalls ungestört ihrer Aufgabe widmen, das Urteilen und Handeln und den Aufbau der Institutionen für die Bewältigung individueller und gesellschaftlicher Herausforderungen aus dem Prinzip menschlicher Freiheit und Würde zu entwickeln.
  3. Nun erst kann es zur Verknüpfung beider Kritiken kommen. Denn wie urteilen wir? Die Kritik der Urteilskraft von 1790 fordert vom individuellen Urteil keine objektive, sondern eine subjektive Allgemeingültigkeit. Das Ideal des Organismus begründet den Respekt vor der Selbstorganisation der Organismen. Und im Zuge dieser organischen Betrachtungsweise inspirieren und ermutigen die Ideale der ästhetischen Gestaltung, die Wirklichkeit nicht nur als Feld eherner Natur-, Sitten- und Rechtsgesetze zu vermessen, sondern sie – durchaus unter deren Berücksichtigung – als Spielraum schöpferischer und maßvoller Entfaltung zu erleben und zu gestalten. Medizin, Pädagogik, Architektur, Kunst, Ökonomie, die Ingenieurswissenschaften und das Handwerk können sich nun ihrer Aufgabe widmen, zum Gestalten, Urteilen und Handeln im individuellen Fall anzuleiten.

Mit dieser Skizze ist das Projekt der kantischen Philosophie grob umrissen. Der gesamte widersprüchliche Bestand theologisch oder philosophisch gefärbter Metaphysik – Rationalismus, Skeptizismus, Empirismus – wird vor jenen Richterstuhl geführt, auf dem die Vernunft über sich selbst zu Gericht sitzt. Kant führt dieses Programm mit einem solchen Erfolg durch, dass er bis heute die maßgebliche neuzeitliche Referenz liefert für jegliches Nachdenken über Grundlagen, Sinn und Unsinn, Möglichkeiten und Grenzen des menschlichen Vernunftgebrauchs. Ich gehe noch einmal etwas detaillierter der Reihe nach vor.

 

 

Gesetze der Natur

 

Was die Erfahrung, ausgebaut zur modernen Wissenschaft, leistet, zeigt Kant an der Logik, die die Formen des Denkens behandelt, vor allem jedoch an der Mathematik und den Naturwissenschaften, die es mit handfesten Gegenständen und ihren Wechselbeziehungen zu tun haben und die man mit mindestens einem der fünf Sinne – am besten durch Instrumente ausgerüstet – wahrnehmen kann. Zur streng wissenschaft­lichen Erfahrung wandelt sich die Alltagserfahrung erst durch eine Revolution der Denkart. Die Mathematik darf z.B. eine geometrische Figur nicht nur naiv ansehen und nachmessen, als fände sie sie vor. Sie misst nicht etwa mühsam möglichst viele Dreiecke aus, um daraus die durchschnittliche Winkelsumme zu ermitteln, sondern sie konstruiert ihren Gegenstand nach zuvor bestimmten Prinzipien, um sicheres Wissen über ihn zu gewinnen. Sicher „gibt“ es Dreiecke aus Holz, aus Stein, in den Sand oder auf Papier gemalt. Das Dreieck im strengen geometrischen Sinne aber wird idealtypisch konstruiert. Was nicht eine Winkelsumme von 180 Grad hat, ist kein ebenes Dreieck im exakten Sinne. Denn die Geometrie kann zwingend beweisen, dass die Winkelsumme eines wahren Dreiecks gleich der eines wahren Halbkreises ist. Der Kreis wiederum ist als ringförmige Linie definiert, die an jedem Punkt den gleichen Abstand zum Mittelpunkt hat. Die Forderungen, die man an den Gegenstand stellt, schaffen ihn also allererst, und zwar nicht nach persönlichem Gutdünken oder graphischem Geschick, sondern nach kontrollierbaren Regeln. So begegnet auch die Naturwissenschaft der Natur nicht in der Rolle „eines Schülers, der sich alles vorsagen lässt, was der Lehrer will, sondern eines bestallten Richters, der die Zeugen nöthigt, auf die Fragen zu antworten, die er ihnen vorlegt“ (AA III, 10).

 

Der moderne Naturwissenschaftler zwingt in seinen Versuchsanord­nungen alle Naturprozesse, nur das zu tun, was er im Rahmen seiner vorher verfassten und streng nach Kausalgesetzen entworfenen Hypothesen zulassen will. Und das Ergebnis notiert er akribisch und kommt so zu den Naturgesetzen. Das Vertraute wird auf den Kopf gestellt: Die Erfahrung richtet sich nicht nach dem Gegenstand, sondern die Gegenstände werden dem Prozess der Erfahrung unterworfen. Und das ist nicht ein möglicher und entlegener philosophischer Wahrheits­begriff neben anderen, sondern das Prinzip, nach dem seit etwa 400 Jahren in den Labors, Fabriken und Managerzentralen der Welt eine gigantische Zivilisationsmaschine erfolgreich zu einer zweiten Natur ausgebaut wird. Es widerspricht diametral unserer Alltagserfahrung, die nur diejenige Beschreibung objektiv nennt, die die Dinge so zeigt, wie sie an sich sind. Normalerweise erkenne ich nicht, was in einer Tüte ist, indem ich aufwändige Vermutungen anstelle, die ich dann überprüfe. Ich mache sie einfach auf und schaue hinein. Die Revolution des Denkens beginnt ironischerweise mit einem Akt grundsätzlicher Bescheidenheit: sie verzichtet auf den Anspruch, die Dinge „an sich“ zeigen zu können. Die Wirklichkeit in ihrer ganzen Komplexität wird nicht wie eine Tüte betrachtet, die man einfach nur aufmachen müsste; auf diesem Wege käme man nur zu unendlich vielen Meinungen über sie. Vielmehr ist „Wirklichkeit“ für die moderne Wissenschaft die Summe von „Erscheinungen“, die das erkennende Subjekt isoliert, um sie zu erkennen. Was als objektiver Gegenstand in Betracht kommt, kann nicht mehr von einer Theorie der Gegenstände, sondern nur noch von einer Theorie der Erkenntnis beantwortet werden. Und wenn wir etwas einen Gegenstand unserer „Erkenntnis“ nennen, kann dies nur mit einer Theorie objektiver Gegenstände begründet werden, also mit einer Theorie und nicht mit den Gegenständen selbst.

 

Was also können wir wissen? Wenn wir behaupten, im strengen Sinne zu wissen, dann stimmt das nur, sofern wir von unseren Erkenntnisverfahren den methodisch kontrollierbar richtigen Gebrauch gemacht haben. Was wir wissen, sind in sich stimmige Theorien, die wir in eine Welt chaotischer und unübersichtlicher Erfahrungen senden, um annäherungsweise Gewissheit zu bekommen. Unser Wissen bekommt so den Charakter eines Netzes von geprüften Wenn-Dann-Behauptungen. Die Wissenschaft verzichtet streng genommen auf jegliche Zustandsbeschreibung, sondern beschränkt sich auf Sätze wie: „Wenn es regnet, wird es nass.“ Ob es aber regnet, regnen wird oder geregnet hat, ist damit noch nicht gesagt. Man kann dann den Satz aufstellen „Es regnet immer dann, wenn Luftfeuchtigkeit und Lufttemperatur in einem entsprechenden Verhältnis stehen.“ Ob und wann aber wiederum das der Fall ist, müsste wieder eigens begründet werden und so weiter. Warum aber will man das alles überhaupt so genau wissen? Ganz offensichtlich strebt der Mensch damit nach Verhaltens- und Ergebnissicherheit, kurz: nach Macht. Niemand will auf die Errungenschaften der modernen Zivilisation verzichten und sich wieder trügerischen Eindrücken, dem Gesetz der Wildnis oder der Macht der Götter unterwerfen. Es ist auch kein Ausweg, der Newton’schen Wissenschaft einen Goethe entgegenzusetzen, denn man müsste dazu z.B. mit Goethe das Mikroskop verbieten. Kant hätte das nie empfohlen.[1]

 

 

Regulative Ideale

 

„Soul Has Weight, Physician Thinks” lautete am 11. März 1907 eine Schlagzeile in der New York Times. Der Arzt Duncan MacDougall aus Haverhill in Massachusetts hatte sterbende Menschen vor, während und nach dem Eintreten des Todes möglichst präzise gewogen. Weil die Seele im Gehirn Platz einnähme, müsse eine Gewichtsabnahme messbar sein, sobald sie den Körper verlasse. Er fand einen Mittelwert von rund 21 Gramm. Was hätte Kant mehr als 100 Jahre zuvor dazu gesagt? Es gibt Aussagen in der Sprache, z.B. über Gott, den freien Willen oder die Unsterblichkeit der Seele, deren Wahrheitsgehalt man nicht in Experimenten prüfen kann. Gott, Freiheit, Unsterblichkeit sind keine Gegenstände der Physik, sondern allenfalls einer „Metaphysik“. Kant versucht zu klären, ob und wie eine solche Metaphysik aussehen könnte. Die Metaphysik soll auf jeden Fall ebenso wie die Erfahrungswissenschaft ihre Gegenstände schöpferisch nach allgemein nachvollziehbaren Grundsätzen entwerfen. Sonst könnte sie nur vage Meinungen liefern. Sollte es ihr also gelingen, sich selbst als widerspruchsfrei zu erweisen, wäre das Experiment wenigstens schon mal in der Hinsicht erfolgreich. Besser noch, sie lieferte Orientierung in der Bewältigung der sinnlich erfahrbaren Wirklichkeit. Aber es ist schon ein Erfolg, wenn die Vernunft jenseits des Erkennbaren Worte und Bilder findet, in der die Fülle der durch Anschauung und Verstand gewonnenen Begriffe nicht nur wahl- und uferlos angehäuft, sondern konsistent zusammengeführt werden. Kant nennt sie transzendentale Ideen. Zu ihnen gehören die Seele oder das Ich als die Einheit des denkenden Subjektes; zu ihnen gehört die Ganzheit der Dinge als die eine räumlich und zeitlich ausgedehnte Welt, zu ihnen gehört die Freiheit als der Wille und das Vermögen von Lebewesen, sich in der Fülle und Unübersichtlichkeit des Lebens selbst ein Gesetz zu geben. Zu ihnen gehört auch Gott oder der Geist als der Inbegriff einer Einheit und Zweckmäßigkeit aller Gegenstände des Denkens überhaupt. Was diese Gedanken leisten, ist zu prüfen.

Die „Kritik der reinen Vernunft“ sorgt dafür, dass wir regulative Idealbegriffe nicht für Erkenntnisse halten. Denn das Ich und die Welt sind keine Objekte der Erfahrung. Und einen Gott, den es gibt, gibt es nicht. Die Ideen regulieren vielmehr den Einsatz der Vernunft, sie organisieren die Erfahrung, halten die Neugier nach Erkenntnissen wach, lassen unterschiedliche Perspektiven und Interpretationen zu und bewahren sie zugleich vor Totalisierung und Ideologisierung. Die Vernunft braucht einen offenen Horizont zur Orientierung, um sich weder aufzugeben noch aufzublähen. Die Macht menschlichen Geistes wird verhandelbar. Im Labor gesicherte Daten sind zwar nicht verhandelbar, die sie erfassenden Apparate und organisierenden Theorien aber durchaus. Ein nach der Idee des Rechts geordneter Staat freier und gleicher Bürger ist nicht nur verhandelbar, sondern entsteht überhaupt erst als Resultat ideengeleiteter Abstimmungen, Verhandlungen und praktischer Folgeleistungen.

 

Nur Kinder meinen, dass man einen Horizont erreichen könne oder den Regenbogen dort, wo er die Erde berührt. Indem die Grenzen der theoretischen Vernunft bestimmt werden, wird damit u.a. auch das Gebiet der praktischen Vernunft abgesteckt. „Ich musste also das Wissen aufheben, um zum Glauben Platz zu bekommen“ (AA III, 19). Wissen steht hier für die theoretische Vernunft, und Glauben bedeutet hier alles andere als etwas irrationales, sondern gerade die vernünftige Anerkennung z.B. der Freiheit als Grundlage von Moral und Recht. Die Idee der Freiheit widerspricht dem Wissen der Wissenschaft deshalb nicht, weil sie sich gar nicht auf der gleichen Ebene mit der empirischen Wissenschaft befindet. Sie steuert den Erkenntnisprozess vielmehr, sie entscheidet, wozu wir am Ende Wissenschaft betreiben. Besonders in der Moral- und Rechtsphilosophie wird deutlich, welche Rolle die regulativen Ideen für die Erfahrung spielen. Die Vernunft im kantischen Sinne unterscheidet Glaube und Vernunft, trennt sie aber nicht. Seine „Religion in den Grenzen der Vernunft“ (AA VI 1-202) ist eine Religion, die auf weite Strecken für die Ethik funktionalisiert wird, aber keineswegs vollständig. Das Ich, die Welt und die Geschöpfe, auch Gott haben bei Kant ihre wesentlichen Funktionen in der praktischen Vernunft, darüber hinaus aber sicher auch in einer Kosmologie, die den regulativen Horizont der Urteilskraft bereichert. Damit stehen wir vor der nächsten Kritik. Die praktische Vernunft fragt: Was sollen wir tun?

 

 

Was sollen wir tun? Und wer ist „wir“?

 

„Es ist überall nichts in der Welt, ja überhaupt auch außerhalb derselben zu denken möglich, was ohne Einschränkung für gut könnte gehalten werden, als ein g u t e r Wille. Verstand, Witz, Urteilskraft und wie die Talente des Geistes sonst heißen mögen, oder Mut, Entschlossenheit, Beharrlichkeit im Vorsatze, als Eigenschaften des Temperaments, sind ohne Zweifel in mancher Absicht gut und wünschenswert; aber sie können auch äußerst böse und schädlich werden, wenn der Wille, der von diesen Naturgaben Gebrauch machen soll und dessen eigentümliche Beschaffenheit deshalb Charakter heißt, nicht gut ist. Mit den Glücksgaben ist es ebenso bewandt. Macht, Reichtum, Ehre, selbst Gesundheit und das ganze Wohlbefinden und Zufriedenheit mit seinem ganzen Zustande, unter dem Namen der Glückseligkeit, machen Mut und hierdurch öfters auch Übermut, wo nicht ein guter Wille da ist, der den Einfluß derselben aufs Gemüt und hiermit auch das ganze Prinzip zu handeln berichtige und allgemein zweckmäßig mache; ohne zu erwähnen, dass ein vernünftiger und unparteiischer Zuschauer sogar am Anblicke eines ununterbrochenen Wohlergehens eines Wesens, das kein Zug eines reinen und guten Willens ziert, nimmermehr ein Wohlgefallen haben kann, und so der gute Wille die unerlässliche Bedingung selbst der Würdigkeit, glücklich zu sein, auszumachen scheint. Einige Eigenschaften sind sogar diesem guten Willen selbst beförderlich und können sein Werk sehr erleichtern, haben aber dem ungeachtet keinen inneren unbedingten Wert, sondern setzen immer noch einen guten Willen voraus, der die Hochschätzung, die man übrigens mit Recht für sie trägt, einschränkt und es nicht erlaubt, sie für schlechthin gut zu halten. Mäßigung in Affekten und Leidenschaften, Selbstbeherrschung und nüchterne Überlegung sind nicht allein in vielerlei Absicht gut, sondern scheinen sogar einen Teil vom inneren Werte einer Person auszumachen; allein es fehlt viel dran, um sie ohne Einschränkung für gut zu erklären. (so unbedingt sie auch von den Alten gepriesen worden). Denn ohne Grundsätze eines guten Willens können sie höchst böse werden, und das kalte Blut eines Bösewichts macht ihn nicht allein weit gefährlicher, sondern auch unmittelbar in unseren Augen noch verabscheuung­swürdiger, als er ohne dieses würde dafür gehalten werden.

Der gute Wille ist nicht durch das, was er bewirkt oder ausrichtet, nicht durch seine Tauglichkeit zur Erreichung irgend eines vorgesetzten Zweckes, sondern allein durch das Wollen, d.i. an sich gut und, für sich selbst betrachtet, ohne Vergleich weit höher zu schätzen als alles, was durch ihn zu Gunsten irgend einer Neigung, ja wenn man will der Summe aller Neigungen, nur immer zustande gebracht werden könnte. Wenngleich durch eine besondere Ungunst des Schicksals, oder durch kärgliche Ausstattung einer stiefmütterlichen Natur es diesem Willen gänzlich an Vermögen fehlte, seine Absicht durchzusetzen; wenn bei seiner größten Bestrebung dennoch nichts von ihm ausgerichtet würde, und nur der gute Wille (freilich nicht etwa als ein bloßer Wunsch, sondern als die Aufbietung aller Mittel, soweit sie unserer Gewalt sind) übrig bliebe: so würde er wie ein Juwel doch für sich selbst glänzen als etwas, das seinen vollen Wert in sich selbst hat. Die Nützlichkeit oder Fruchtlosigkeit kann diesem Werte weder etwas zusetzen oder abnehmen. Sie würde gleichsam nur die Einfassung sein, um ihn im gemeinen Verkehr besser handhaben zu können, oder die Aufmerksamkeit derer, die noch nicht genug Kenner sind, auf sich zu ziehen, nicht aber um ihn Kennern zu empfehlen und seinen Wert zu bestimmen.“ (AA IV 393-394)

 

In diesen sperrigen Worten schlägt das Herz der kantisch aufgeklärten Moraltheorie: Was kann man sinnvoll als Zentrum ethischen Verhaltens ausmachen? Kant antwortet: einen guten Willen! Die Talente des Geistes, die Temperamente, der Reichtum Fortunas, ja selbst Tugenden wie Besonnenheit und Selbstbeherrschung können durchaus auch in böser Absicht zur Wirkung kommen. Sollte es einem Willen an all diesen Gaben ohne eigenes Verschulden mangeln, sollte das Schicksal auch sein größtes Bestreben durchkreuzen, verdiente er dennoch das Prädikat sittlicher Güte. Entscheidend ist die Ausrichtung auf das allgemein zweckmäßige. Die konsequente Verwirklichung ist keineswegs unerheblich, sie ist der guten Absicht inhärent, aber sie begründet sie nicht. Empirisch fassbar ist überhaupt nur die Verwirklichung, sei es als Nützlichkeit oder Fruchtlosigkeit. Darin ist auch der Kantianismus ein Utilitarismus.

 

Wir haben die theoretische Vernunft verlassen und das Reich der praktischen Vernunft betreten, die kantische Ethik. Sie fragt, ob und wie es ein unbedingtes Sollen gibt und liefert die Antwort in den folgenden vier Schritten:

  1. Zu Beginn wird der Begriff des Sittlichen geklärt: Was genau meinen wir, wenn wir das Wort „gut“, nicht im Gegensatz zu „falsch“ oder „schlecht“, sondern zu „böse“ verwenden?
  2. Wenn Sittlichkeit ein unendliches regulatives Ideal darstellt, Menschen aber endliche Vernunftwesen sind, die nicht per se gut statt böse handeln, wie lautet dann die besondere Aufforderung an den Menschen, die bei Kant den Namen „kategorischer Imperativ“ bekommt?
  3. Wie ist der idealtypisch verstandene autonome Willen als Ursprung sittlichen Handelns zu denken, an den sich jener Imperativ richtet?
  4. Kann gegen die Einwände der Skeptiker anhand des Faktums der Vernunft bewiesen werden, dass es Sittlichkeit auch wirklich gibt?

In der folgenden Darstellung fasse ich den ersten und dritten Schritt zusammen, da beide im Blick auf die Korrespondenz transzendentaler Begriffe (des uneingeschränkt Guten und des reinen Willens) mit ihren empirischen Korrelaten (dem Nutzen und dem endlichen Willen) eng miteinander verwoben sind.

Ich beginne mit der Konstituierung des sittlichen Subjekts. Erneut gegen allen gesunden Menschenverstand behauptet Immanuel Kant zu Beginn des zitierten Abschnittes seiner „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“, dass es nicht darauf ankomme, was eine Tat bewirke, sondern welche Absicht sie leite. Plädiert der Philosoph hier für einen blauäugigen Dilettantismus oder für die bigotte Selbstgefälligkeit einer hehren, aber verantwortungslosen Gesinnung? Wenn nicht, warum dann die so künstlich anmutende Isolierung des Willens aus der Komplexität einer normativen Handlungstheorie? Um die Antwort vorwegzunehmen: Weil es ohne einen Willen keinen Sinn macht, von Handeln zu sprechen.

 

Kant bleibt zunächst ganz im Bereich des Formalen, wenn er nach einem Vermögen sucht, das nicht den Gesetzen der Natur unterworfen ist, sondern darin besteht, mögliche Zwecke zu sondieren, sie nach Maßgabe von Gesetzen einzustufen und dann nach den bevorzugten zu handeln. Dieses Vermögen bekommt den Namen „Willenskraft“. Der Begriff des Willens setzt eine Distanz zwischen natürlichen Neigungen und Trieben auf der einen Seite und ihrem Träger, dem Subjekt, auf der anderen Seite voraus und unterstellt, dass der Wille über die automatischen Reiz-Reaktions-Ketten herrschen könne. Mit welchem Recht und in welchem Sinn aber sprechen wir so selbstverständlich von einem solchen Willen?

 

Hier nun greifen die uns bereits bekannten Unterscheidungen: Wie im Theoretischen so unterscheidet Kant auch im Praktischen aus methodischen Gründen zwischen einer empirisch bedingten und einer reinen Vernunft. Die theoretische Vernunft erfasst mittels Erfahrung immer nur „Verhalten“, das kausal auf Einflussfaktoren untersucht werden kann. Wenn ein Kind nicht isst, dann kann es sein, dass es kürzlich erst gegessen hat oder das Essen verdorben ist. Innere und äußere messbare Faktoren reichen aus, sein Verhalten zu erklären. Der Begriff des reinen Willens ist deshalb im Gedankenexperiment durch die völlige Abwesenheit äußerer oder innerer Fremdbestimmung definiert, er ist der experimentell postulierte Idealtypus der absoluten Autonomie als Fähigkeit, Vernunftwesen auch als solche zu achten und entsprechend zu handeln. Es könnte auch so sein: Das Kind hat großen Appetit und schätzt die schmackhafte Mahlzeit, trotzdem isst es nicht. Könnte es nicht einen Impuls geben, der rein und allein aus dem Kinde selbst kommt und sich ausschließlich einer vernünftigen Überlegung verdankt? Wenn wir hier einen freien Willen vermuten wollen, wie können wir den erfassen? Der freie Wille ist doch ein Postulat nach Maßgabe des regulativen Ideals der Freiheit, also kein Gegenstand empirischer Untersuchung. Wie kommen wir hier weiter? Noch einmal: Wozu braucht Kant überhaupt eine solche Gedankenkonstruktion? Weil nur das, was Ausdruck eines solchen idealtypisch reinen Willens ist, als in einem streng eigenständigen Sinne sittlich gut oder sittlich verwerflich gelten kann. Alles andere wie Aufnahme- und Durchhaltevermögen, Mut oder Selbstbeherrschung kann unter veränderten Bedingungen mal schlecht oder mal böse sein; jene allein entscheidende, weil nicht ihrerseits wieder abgeleitete Bedingung ist eben – der Wille. Der Begriff des reinen Willens dient dazu, dem Begriff des sittlich Guten einen eigenen Platz zuzuweisen; er liefert zur näheren Bestimmung des Prädikates „gut“, nicht im lukullischen, nicht im pragmatischen, nicht im sinnlichen, sondern im spezifisch einzig und allein moralischen Sinne das passende Subjekt. Denn wie nach der Revolution des Denkens in der theoretischen Vernunft nicht mehr verwunderlich, sucht Kant das Gute nicht wie Aristoteles in den Gegenständen menschlichen Strebens, sondern im Kern jenes Strebens selbst, eben im möglichst trennscharf konturierten Willen. Da Wille der Name für den Ursprung einer freien Entscheidung ist, trägt im strengen, weil ausschließlichen sittlichen Sinne nur der gute Wille das Prädikat „gut“ und allein der böse Wille das Prädikat „böse“. Alle anderen Talente, Instrumente, Strukturen und Effekte sind nur unter der Voraussetzung als moralisch gut oder böse zu qualifizieren, dass nicht eine Laune des Schicksals oder dieser oder jene physische oder psychische Anreiz, sondern ein Wille dahintersteht. Für die ethische Definition des Wortes „gut“ also braucht Kant jene Gedankenkonstruktion eines absoluten Willens.

 

 

Sinnebenen des Wortes „gut“

 

Ist es nicht so? Nicht nur Kant, wir alle machen das so, es sei denn, wir strichen den Begriff des Sittlichen und mit ihm das Wort „Sollen“ aus unserem Wortschatz. Denn wie wird das Wort „gut“ verwendet? Kant unterscheidet drei Bedeutungsebenen: Im technischen Sinne „gut“ nennt man das Werkzeug z.B. eines Handwerkers, wenn es den ihm zugedachten Zweck hinreichend erfüllt, also eine Säge, wenn sie scharf genug ist, um Holz oder anderes damit zu teilen. Und die Kunst, ein Werkzeug technisch zu beherrschen, nennen wir Geschicklichkeit. Im pragmatischen Sinne „gut“ dagegen nennen wir ein Vorgehen, bei dem ein geeignetes Werkzeug auch mit größter Geschicklichkeit nicht ziellos, sondern sinnvoll eingesetzt wird. Denn man kann ja mit großer Geschicklichkeit auch erhebliche Dummheiten anrichten, z.B. den Ast kunstvoll absägen, auf dem man sitzt. Die Fähigkeit, seine Geschicklich­keit auch wirklich zum eigenen Vorteil einzusetzen, nennen wir Klugheit. Beide Male aber steht eine ethische Beurteilung noch aus, denn selbst brillante Geschicklichkeit in der kriminellen Verwendung eines Werkzeugs und selbst frappierende Klugheit als wohlkalkuliertes Eigeninteresse einer Räuberbande verweisen nicht auf „gute“, sondern „schlechte“ Prinzipien und Charaktere, und diese verweisen wiederum zurück auf einen „bösen“ Willen als letzten Ursprung. Deshalb bestätigt sich noch einmal die zunächst ungewöhnliche These Kants, dass streng genommen nur ein Wille das Prädikat „gut“ oder „böse“ ohne Einschränkungen und im sittlichen Sinne tragen kann. So können umgekehrt technisch und pragmatisch unvollkommene Handlungen dennoch ethisch vollkommen sein, auch wenn sie bei der Verfolgung des moralisch gebotenen Ziels auch moralisch nicht gewollt sein können. Ebenso wie im Bereich der theoretischen Vernunft ermöglicht auch in der praktischen Vernunft allein das Subjekt die objektive Gültigkeit der Aussage. Nicht weil es aus Lust und Neigung geschieht oder weil es gemäß der klassisch-griechischen Auffassung von Natur als passend erscheint, nicht weil es eine Gemeinschaft für anständig hält oder weil es aus einem bestimmten Entscheidungsverfahren hervorgeht, nicht weil es ein biblischer Gott gebietet – das war die deuteronomisch-paulinisch-augustinische Lösung – oder uns ein moralisches Hochgefühl bereitet oder auch die nicht weniger beliebte moralische Entrüstung auslöst, ist etwas sittlich, sondern allein insofern in ihm ein Wille das universal Zweckmäßige will.

 

Das Kind in unserem Beispiel verzichtet vielleicht auf Schokolade, weil es sie seinem Freund versprochen hat. Und nicht nur die Freundschaft zu diesem einen Freund, sondern Freundschaft generell und die kulturelle Errungenschaft, sich gegenseitig unter allen Umständen auf Versprechen zu verlassen, sind ihm intuitiv wichtiger als der kurze Genuss. Schaut man von dieser Abstraktion zurück, dann umgreift und steuert die Sittlichkeit selbstverständlich die Klugheit und die Geschicklichkeit, soweit es irgend geht. Oftmals bereitet sie ihnen sogar den Weg. Nur Kurzsichtige, denen die Sicht auf die Allgemeinheit fehlt, können ihren persönlichen oder Gruppenegoismus auf Dauer für klug halten. Und nur Demagogen geißeln etwas als ethisch fragwürdig, bloß weil sie entlarven können, dass es zugleich auch den Wünschen und Interessen der Handelnden entgegenkommt. Natürlich kann man sich den ganzen Aufwand auch sparen und sich einen Ort diesseits oder jenseits von Gut und Böse wählen. Man muss nichts aus moralischen Gründen sollen. Religiös gesprochen ist es einfach ein Wunder[2], wenn Menschen ihren Geist in die Welt senden und sich coram mundo et deo Gedanken machen, vor der universalen Weite des Lebens weder kapitulieren noch davonlaufen und u.a. den Suchbegriff eines zurechnungsfähigen Willens zum Angelpunkt ihrer Handlungstheorie machen.

 

Da der Mensch ein gemischtes Wesen ist und von Neigungen und Sorgen getrieben nicht immer seinem guten Willen folgt, kann die Übereinstimmung mit der Sittlichkeit sicherlich auch nur ein Mantel sein, der die in Wahrheit selbstsüchtigen Motive kaschiert. Oder Pflicht und Neigung fallen nur zufällig zusammen, und die Neigung geht alsbald wieder eigene Wege. Oder die Pflicht wird wirklich um ihrer selbst willen befolgt, selbst wenn die Neigung anders votierte; sollte sie einstimmen, umso besser! Die bloße Pflichtgemäßheit der ersten beiden Handlungsweisen nennt Kant „Legalität“. Nur im dritten Fall spricht er von Sittlichkeit oder Moralität, die als solche dann aber nicht durch messbares Verhalten bewiesen, sondern nur vermutet werden kann. Nicht am Handeln selbst, sondern nur am Willen lässt sie sich ablesen. Und seines guten Willens kann sich das endliche Wesen Mensch, sei es ein kleines Kind oder ein erwachsener Mensch, nie völlig sicher sein. Deshalb kehrt die praktische Philosophie die Argumentation der theoretischen in einer Hinsicht um: So wie das theoretische Erkennen sich nicht anmaßen soll, reine Ideen zu behandeln, so soll die praktische Vernunft nicht glauben, eine Bestätigung ihrer Ideen in und aus der Erfahrung zu erhalten. Der empirische Wille, der unvermeidlich von sinnlichen Einflüssen abhängig ist, kann sich die Idee eines reinen Willens – Kant spricht an dieser Stelle von der „Heiligkeit“ eines reinen Willens (AA V 122) – nur zum Vorbild nehmen.

 

Mit diesem konsequenten Ansatz ist Kant allen Ethikentwürfen überlegen, die darauf setzen, messbaren Übereinstimmungen des Handelns mit äußeren Kriterien das Prädikat „moralisch“ zu verleihen, sei es anhand eines Katalogs kasuistischer, utilitaristischer, diskursiver, behavioristischer oder soziobiologischer Kriterien. Der umgekehrte Einwand, die kantische Ethik sei rein auf die Gesinnung einer „bürgerlichen Innerlichkeit“ ausgelegt, greift deshalb nicht, weil Kant die Legalität keineswegs abwertet oder für beliebig erklärt, sie wird vielmehr von der Sittlichkeit geprüft, geordnet, vertieft und überboten, beide haben denselben Maßstab im Kategorischen Imperativ, wenn auch mit deutlich unterschiedener Verbindlichkeit.

 

 

Der Kategorische Imperativ

 

Damit sind wir beim zweiten Schritt der kantischen Ethik. Nachdem geklärt ist, wer überhaupt im ethischen Sinne Gutes tun kann, nur der Träger eines gesetzgebenden Willens nämlich, geht es jetzt um das Objekt in der Frage: was sollen wir tun? Die Vernunft richtet ihre Forderungen als Kategorischen Imperativ an Vernunftwesen, die auch, aber nicht nur vernünftig handeln. Sie erinnert, ermahnt und befiehlt um der Selbsterhaltung dieser Wesen als Vernunftwesen willen. Sie kann nicht verhindern, dass diese Wesen alle zusammen oder in Teilen beschließen, ohne Vernunft weiterzuleben, aber sie kann festlegen, was von denen zu fordern ist, die sich ihrer Vernunft bedienen und die sich gegen Argumente der Unvernunft und den Angriff der Antivernunft wappnen wollen.

Was aber sind das für Imperative, ohne die es keine Vernunft gibt und warum heißen sie „kategorisch“? Kategorisch ist der Gegenbegriff zu hypothetisch, letzteres bezeichnet bedingte Aussagen nach dem Schema: „Wenn Du möchtest, dass jemand zahlt, biete ihm deine Dienste an“. Kategorisch heißen Aussagen, die unter allen Bedingungen gelten: „Hilf jedem zu jeder Zeit, soviel du kannst!“. Alle Versionen des Kategorischen Imperativs beginnen deshalb mit einem bedingungslosen „Handle …!“, d.h. reagiere nicht nur, funktioniere nicht, kalkuliere und gehorche nicht einfach, folge nicht wechselnden Anreizen und Launen, sondern erfülle verlässlich einen unbedingten Anspruch aus einem objektiv-universalen Wollen, also genau gesagt: aus einem Sollen. Die Betonung des unbedingten Sollens ist der erste Gesichtspunkt des Kategorischen Imperativs neben dem zweiten Gesichtspunkt der Verallgemeinerung.

 

Über das geschickte und kluge Handeln hinaus fordert die Vernunft kategorisch sittliches Handeln, das sich durch seine universale Reichweite von den hypothetischen – technischen und pragmatischen – Imperativen unterscheidet. Technisches Geschick kann beliebigen Zwecken dienen, guten wie bösen. Pragmatische Klugheit dient nur einem partikularen Glücksstreben. Erst sittliches Handeln löst sich von jeglicher Funktionali­sierung und Instrumentalisierung, gibt sich selbst ein Gesetz und ist somit frei. „Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, daß sie ein allgemeines Gesetz werde." (AA IV, 421) So lautet die Grundform des Kategorischen Imperativs, sie legt den bedingungslosen kategorisch-universalen Charakter fest. Neben die Grundform stellt Kant eine erste, formale Version, die mit dem Gedanken arbeitet, dass die Summe alles Seienden rein formal durch den Begriff „Natur“ erfasst wird: „Handle so, als ob die Maxime deiner Handlung durch deinen Willen zum allgemeinen Naturgesetze werden sollte." (a.a.O.) Hier werden die Naturgesetze der theoretischen Vernunft als Analogie angeführt. Prinzipiell soll alles, die gesamte Natur, vom sittlichen Willen durchformt werden; nichts bleibt dem unbedingten Sollen neutral. Das ist natürlich nie zu schaffen, wohl aber anzustreben, deshalb ein „als ob“ und kein Indikativ. Die derart geordneten Verhältnisse fügen sich zu einem Bild der „menschlichen Natur“, das dann als „Naturrecht“ im Sinne des Menschenrechtes seinerseits zur Norm wird.

 

Die nächste, inhaltliche Selbstzweckformel betont die Selbsterhaltung der Vernunftwesen als Vernunftwesen, sie zielt auf die Grundlage allen Handelns, auf die Gewährung von Freiheit als Erhaltung von Freiheit: „Handle so, daß du die Menschheit, sowohl in deiner Person als in der Person eines jeden anderen, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst." (AA IV, 429) Diese Version verbietet die Unter­werfung von Menschen unter Zwecke, ihre Degradierung zu Mitteln und Instrumenten, also die Versklavung, Instrumentalisierung oder Preisgabe eines Menschen. Sie gesteht gleichwohl zu, dass Menschen sich auch als Mittel zu einem Zweck gebrauchen, aber nie ausschließlich. Irgendein subjektiv partikulares Kalkül wird und darf stets mitlaufen, ein solches aber ist zu unterlassen, das auf Kosten der Würde der Beteiligten als Zweck ihrer selbst geht, das also die intersubjektive und intrasubjektive wechselseitige Anerkennung der Menschenwürde im Sinne eines Seins als freies Subjekt oder autonomes Vernunftwesen zunichte machte. Vernunftwesen sind solche, die nicht nur Zwecke wählen – das kann jeder Organismus –, sondern sich zu ihren Zwecksetzungen auch kritisch-reflexiv verhalten, indem sie nach deren Legitimität fragen und legitime Zwecke auch gegen Widerstände weiterverfolgen. Und wegen dieses Vermögens und um seiner Erhaltung willen sind sie zur Achtung verpflichtet. Nur auf dieser Grundlage und nur in ihren Grenzen sollen die Beteiligten Kontrakte freiwillig vereinbaren und jederzeit freiwillig beenden.

 

Es ist Kant, der als erster die Legitimation der Pflichten gegen sich selbst und die der Pflichten gegen andere im Begriff der Menschenwürde miteinander verbindet.[3] Gemäß der letzten zusammenfassenden Version sollen „alle Maximen aus eigener Gesetzgebung zu einem möglichen Reiche der Zwecke, als einem Reiche der Natur zusammenstimmen.“ (AA IV, 436) Hier wird eine Teleologie, eine solche Zweckmäßigkeit aller Dinge postuliert, die nicht in ihnen liegt, aber von allen Bürgern jenes Reiches der Zwecke bei der Verwandlung von Natur in Kultur als einer „zweiten Natur“ gemäß einem „Naturrecht“ schöpferisch unterstellt wird. Dieses Konzept von Teleologie wird Kant in der Kritik der Urteilskraft weiter entwickeln.

 

Wie wird diese noch sehr allgemeine Aufforderung konkret? Der kategorische Imperativ regelt die Auswahl von „Maximen“. Das sind bei Kant Grundhaltungen unterhalb der Ebene, die Aristoteles mit seinen Lebensformen angedeutet hat. Sie bündeln eine Vielzahl von Mentalitäten, Absichten und Handlungen nach einer ihnen jeweils innewohnenden Grundrichtung. Vom technischen Gegensatz „geschickt versus ungeschickt“ und dem pragmatischen Gegensatz „dumm versus klug“ sind wir zur moralischen Differenzierung in „gut versus böse“ aufgestiegen. Nun soll die Moral wieder hinab ins Konkrete übersetzt werden: gütig statt berechnend, hilfsbereit statt gleichgültig, großmütig statt engherzig, weise statt töricht, ehrlich statt verschlagen, treu statt hinterhältig. Solche Maximen – heute sind eher Begriffe wie „Werte“, „Tugenden“, „Prinzipien“ geläufig – steuern Handlungsregeln, die sich auf eingrenzbare Arten von Situationen beziehen: Alltagsprobleme, Notsituationen, Streitfälle, Erfahrungen in Gemeinschaften und Gesell­schaften. Die Maximen bleiben als grundsätzliche Vorschläge zur Optimierung von Handlungen die gleichen, auch wenn sie situations­abhängig in unterschiedliche Regeln gegossen werden. Lautet die Maxime „Höflichkeit“, so gilt z.B. im Generationenverhältnis die Regel: „Immer wenn eine alte Dame einen überfüllten Bus besteigt, bietet der höfliche junge Mann ihr seinen Platz an.“ Sie kann aber variiert werden: „Immer wenn der junge Mann schwerbehindert ist und jene Dame vital und rüstig, dann überlässt sie ihm den Platz.“ Dass Höflichkeit aus ethischem Ernst und nicht nur als elitäres Gehabe gepflegt wird, erweist sich erst dann, wenn überprüft wird, ob sie den Kategorischen Imperativ in Gestalt einer Maxime auf alle Situationen allgemeiner Geselligkeit anwendet. Diese lautet dann: „Der jeweils Stärkere hilft dem jeweils Schwächeren.“ Ist das verallgemeinerbar? Kann sich jedermann diese Maxime wünschen? Die Antwort lautet: Ja gewiss! Denn auch Starke können schwach werden, dann sind sie die Schwachen. Im innersten Kern also ruht der Kategorische Imperativ auf einem Freiheitsversprechen in wechselseitiger Stellvertretung.[4] Gut ist die Einhaltung dieses Versprechens, böse ist sein Bruch.

 

Diese Prinzipienethik ist einer kasuistischen Normen- und Regelethik darin überlegen, dass sie nicht stupide gängelt, sondern zur schöpfe­rischen Auslegung des ethischen Imperativs in der unübersehbaren Fülle individueller Situationen befähigt. Sie spiegelt Lebenshaltungen und Lebensentwürfe und benennt Maßstäbe, die es erlauben, auch einander fremde Gesellschaften und Kulturen miteinander ins Gespräch zu bringen und sich unter veränderten Bedingungen dennoch als Freier unter Freien treu zu bleiben. Allein auf der Ebene der Regeln endete jeder Vergleich mit der positivistischen Aufzählung der Regelkataloge; erst die Herausarbeitung der Maximen und deren anschließende Überprüfung am Maßstab des Kategorischen Imperativs ermöglichen eine kritische ethische Sichtung der Regeln.

 

[1]    Zur Weiterentwicklung der modernen Wissenschafts- und Erkenntnistheorie vgl. Popper, Karl R. (200511): Logik der Forschung, Tübingen; Chalmers, Alan F. (20076): Wege der Wissenschaft: Einführung in die Wissenschaftstheorie, Berlin / Heidelberg / New York NY; Carrier, Martin (20113): Wissenschaftstheorie zur Einführung, Hamburg; Wiltsche, Harald A. (2013): Einführung in die Wissenschaftstheorie, Göttingen.

[2]    Hier sehe ich einen der Ansatzpunkte für den epochalen Streit zwischen Luther und Erasmus über die Freiheit des Willens und die Beziehung zwischen Glaube und Vernunft, Philosophie und Theologie, vgl. Dalfert, Ingolf. U. (2010): Radikale Theologie, Leipzig.

[3]    Vgl. Rothhaar, Markus (2015): Die Menschenwürde als Prinzip des Rechts. Eine rechtsphilosophische Rekonstruktion, Tübingen, 143-182.

[4]    Damit ist auch beantwortet, dass das kantische Subjekt nicht durch das Maß seiner geistigen Kapazitäten definiert ist. Es ist ein Suchbegriff, der durchaus speziesistisch, physiologisch und sozioökonomisch vornehmlich auf den wachen, gesunden, gebildeten, rechtsfähigen, erwachsenen Menschen zielt, sich aber eben gerade nicht auf diesen beschränkt. Im Gegenteil soll jedes Wesen, das den Kategorischen Imperativ hört und versteht, die gesamte Natur als ein Reich der Zwecke achten, also stets das Gesetz und Maß seines Handelns so ausrichten, dass es die Bestimmung dessen reflektiert, das ihm begegnet. Bestimmen und Reflektieren aufeinander zu beziehen, ist Aufgabe der Urteilskraft.