Große Wanderungen

Flucht der Reformierten

(Quelle: Hugenotten Museum Bad Karlshafen)

Flucht 1945

(Quelle unbekannt)

Flucht 2015

Quelle: http://www.faz.net/aktuell/ein-jahr-fluechtlingskrise-ueberrollt-14418217.html

 

Große Wanderungen

 

Yahya und Feiz, 13 und 14 Jahre alt, schlagen sich alleine von Afghanistan nach Schweden durch. In Bayern greift die Bundespolizei die Kinder auf, sie entwischen jedoch und setzen ihre Wanderung fort. Diesen Fall meldete die Süddeutsche Zeitung am 3. April 2012[1], und es war keines­wegs die erste Meldung dieser Art; man konnte ähnliche schon seit 2010 immer wieder lesen. Wie hatten die beiden das geschafft? Woher wussten sie den Weg? Wer hatte ihnen unterwegs geholfen? Wovon hatten sie gelebt? Was war mit ihren Eltern? Sind sie Geschwister? Warum kamen nach eineinhalb Jahrzehnten Einsatz der NATO in Afghanistan Tausende von dort nach Europa? Bevor ich diesen Fragen weitere Aufmerksamkeit widme, stelle ich fest, dass Yahya und Feiz zunächst einmal angekommen waren. Sollten sie in Europa Aufnahme finden oder nicht?

 

Wären sie beide in Deutschland geblieben, hätten sie Hilfe bekommen, so wie die übrigen ca. 4.500 unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge, die damals jährlich nach Deutschland kamen.[2] So bot z.B. die Hansestadt Hamburg bereits seit geraumer Zeit in einem zentralen Flüchtlingszen­trum umfangreiche Beratungen an, insbesondere für Flüchtlinge aus Kriegsgebieten. Neben den beruflich Tätigen kümmerten sich im Sommer 2015 deutlich über 2.000 Freiwillige in den Hamburger Flücht­lingsunterkünften um Menschen wie Yahya und Feiz. Wer es also einmal nach Deutschland geschafft hatte, bekam mit einiger Gewissheit zumindest erste Hilfe; auch das Aufenthaltsrecht war zuvor reformiert worden[3], langfristig sahen die Chancen auf volle Integration z.B. im deutschen Bildungssystem damals allerdings eher bescheiden aus. Yahya und Feiz waren gut beraten, ihre Reise nach Skandinavien fortzusetzen.

 

 

Mare Nostrum 2013 – Triton 2014 – Poseidon Sea 2014 – Sophia 2015

 

Ganz anders jedoch stellte sich im Frühjahr 2015 die Lage an den Grenzen Europas dar, und im Sommer bereits auf den Autobahnen und den Bahnhöfen im Herzen Europas.[4] Am 19. April 2015 meldete die DIE ZEIT unter Berufung auf Carlotta Sami, Sprecherin des UN-Flüchtlingshoch­kommissariats (UNHCR), bei einem Schiffsunglück im Mittelmeer seien erneut Hunderte von Flüchtlingen ums Leben gekommen. Das Schiff sei rund 110 Kilometer vor der libyschen Küste gekentert, 28 Passagiere seien von der Besatzung eines Handelsschiffes gerettet worden. Nach ersten Aussagen der Geretteten sind über 900 Menschen an Bord gewesen, davon 40 bis 50 Kinder und etwa 200 Frauen. Viele Menschen seien im Laderaum eingeschlossen gewesen und hätten keine Aussicht gehabt, gerettet zu werden. Möglicherweise hat sogar erst die Hilfsmaßnahme die letztendliche Katastrophe verursacht: Nachdem die italienische Küstenwache auf einen Notruf hin einen portugiesischen Frachter zur Unglücksstelle geleitet hatte, drängten die Passagiere bei Annäherung des Schiffs alle gleichzeitig auf eine Seite des Kutters und brachten so das Boot erst zum Kentern. „Wenn sich die Bilanz dieser erneuten Tragödie bestätigen sollte, sind in den vergangenen zehn Tagen mehr als 1.000 Menschen im Mittelmeer ums Leben gekommen."[5]

 

Dass improvisierte Hilfemaßnahmen am Ende mehr Schaden als Nutzen anrichten können, ist auch darauf zurückzuführen, dass das ambitionierte italienische militärische Seeüberwachungs- und Rettungs­programm Mare Nostrum, in dessen Laufzeit vom 18. Oktober 2013 bis 31. Oktober 2014 rund 150.000 Menschen vor dem Ertrinken gerettet wurden, durch das wesentliche restriktivere Programm Triton der EU abgelöst wurde. Der deutsche Innenminister de Maizière beklagte Anfang Oktober 2014 den Anreiz für Schlepper und Flüchtlinge: "Mare Nostrum war als Nothilfe gedacht und hat sich als Brücke nach Europa erwiesen".[6]

 

Formal war für solche Entscheidungen und besonders für die innen­politischen Konsequenzen die Europäische Kommission in Brüssel zuständig, da sie die gesamte EU betrafen. De facto aber trugen die Regierungen der Mitgliedstaaten die Verantwortung, die alle zwei Monate ihre Innen- und Justizminister zu gemeinsamen Beratungen und Beschlüssen entsandten. In diesen Treffen wurden die maßgeblichen Vorgaben der europäischen Grenz- und Flüchtlingspolitik festgelegt.

 

Angesichts der Berichterstattung vom 19. April 2015 konnten und wollten die Regierungen ihre Entscheidungen vom Herbst 2014 offensichtlich nicht mehr aufrechterhalten. Denn die Menschen verließen ihre Heimat nicht ohne Not, sie flohen vor dem Bürgerkrieg in Syrien, vor Armut und Diskriminierung auf dem West-Balkan oder vor den Folgen des Staatszerfalls in Äthiopien, Eritrea und Somalia, die meisten setzten ihr gesamtes Hab und Gut, ihre Heimat und ihr Leben aus Spiel. Das Drama sollte also so bald nicht aufhören.[7] Die schnelle Abfolge von Operationen spiegelt den Handlungsdruck: Mare Nostrum 2013, Triton 2014, Poseidon Sea 2014, Sophia 2015.

Die insbesondere durch die plötzlichen und drastischen Lebensmittel­kürzungen seit der Jahreswende 2014 / 2015 verschärfte Verelendung in den Flüchtlingslagern im Nahen Osten, die Ausweitung des Bürgerkriegs in Syrien und der am März 2015 gemeldete stetige Anstieg der Zuwanderung seit 2013 wurde von der gesamten Politik aller EU-Staaten bis in den Sommer und Herbst 2015 hinein sicherlich nicht ausreichend ernst genommen. Der plötzliche Ansturm von Zehntausenden seit August war immerhin seit dem Frühjahr vorauszusehen.

 

Welche kurz- und welche langfristig ethisch vertretbare Politik wurde damals diskutiert? Die Staats- und Regierungschefs der EU-Mitglieds­länder traten am 23. April 2015, vier Tage nach dem beschriebenen Schiffsunglück, in Brüssel zu einem Sondergipfel zusammen, um zu erörtern, ob Flüchtlingen auf dem Mittelmeer und an der nordafrikanischen Küste nun nicht doch schnell und wirksam geholfen werden solle. Erst am Montag zuvor hatten die Außen- und Innenministern der EU-Staaten einen Zehn-Punkte-Plan vorgelegt. Der sah zwar vor, die Seeoperationen der Grenzschutzagentur Frontex vor den Küsten Italiens und Griechenlands zu stärken und finanziell aufzustocken, nicht aber, sie auf die kritischen Gebiete auf hoher See oder vor der libyschen Küste auszudehnen. Selbst mit den zusätzlichen Finanzen blieben die Anstrengungen der EU deutlich unterhalb derer, die für das rein italienische Programm Mare Nostrum aufgewendet wurden. Ferner hatte Frontex keine eigene Flotte, sondern war darauf angewiesen, dass Mitgliedsstaaten Schiffe und Ausstattungen erstens bereitstellten und zweitens für jede einzelne konkrete Maßnahme freigaben. Die Bereitstellung von Finanzen sagte also noch nichts aus. Die EU-Staaten überlegten sich weiterhin jede Maßnahme sorgfältig, denn jede Ausweitung der Seenotrettung und jede Öffnung von Landrouten zog gravierende Folgeentscheidungen nach außen und nach innen nach sich.

 

 

Die Suche nach einem Konzept

 

Deshalb musste ein Gesamtkonzept entwickelt werden mit einigen innerhalb einer Menschenrechtsethik spannungsvollen und deshalb nicht immer leicht zu vereinbarenden Eckdaten. Die an Asyl und Flüchtlings­schutz gemäß der Genfer Flüchtlingskonvention ausgerichtete General­formel lautet: Jeder Mensch hat als Flüchtling das Recht auf eine menschenwürdige Zuflucht und auf Fluchtwege, auf denen er weder ertrinkt, verhungert oder verdurstet noch bedroht, ausgeplündert oder vergewaltigt wird. Die am Souveränitätsprinzip ausgerichtete bürger­rechtsethische Generalformel dagegen lautet: Jeder Mensch hat als Bürger seines Staates einen Rechtsanspruch darauf, dass die Organe seines Staates das ebenfalls am Menschenrecht ausgerichtete Recht und Gesetz auch bezüglich der territorialen Integrität des Staatsgebiets, der Staatsangehörigkeit sowie der Bestimmungen über geregelte Ein- und Ausreisebestimmungen, Asyl und Zuwanderung einhalten.

 

Beide Formeln widersprechen sich zwar nicht, aber sie sind auch nicht identisch. Da es keinen Weltstaat gibt und vielleicht besser auch nicht geben sollte, sondern eine, zudem sehr unvollkommene internationale Staatengemeinschaft als Friedens- und Rechtsordnung, gliedert sich das alle Menschen universell verbindende Menschenrecht in ein alle Menschen unterscheidendes Bürgerrecht nach dem Souveränitätsprinzip und ein alle Menschen einendes stellvertretendes Fremdenrecht für Menschen, die ihr Bürgerrecht nicht wahrnehmen können.[8] Beide bedingen sich gegenseitig, da nur konkrete, also historisch bedingte Bürgergesellschaften Staaten unterhalten, die wiederum allein in der Lage sind, ihrerseits Bürger aufzunehmen und zu schützen, die ihr anderes und deshalb fremdes Staatsbürgerschaftsrecht de facto nicht geltend machen können. Die Bürger des einen Staates nehmen die Bürger eines anderen Staates bis zur erneuten Inkraftsetzung deren verlorener Rechte nach einem stellvertretenden Recht auf. Kurz: die Genfer Flüchtlingskonvention lebt nur, wenn die Staaten, die sie ratifiziert haben, auch anwenden. Und wie sollten sie das, wenn sie ihre Grenzen dauerhaft preisgäben und mit ihnen weitere institutionelle Pfeiler ihrer souveränen Selbstbestimmung?[9] Die beschriebene Spannung konzentriert sich insbesondere an der Frage der Grenzregime. Grenzen zwischen Staaten dienen zum einen dem Schutz der Bürger durch Wahrung der territorialen Integrität des Staates gegenüber den Nachbarstaaten, zum anderen der präzisen Definition des räumlichen Geltungsbereiches staatlicher Rechtsordnungen. Grenzen haben schließlich eine Schlüsselfunktion im Völkerrecht: Grenzkonflikte können den Frieden in der Welt bedrohen und zu Kriegen eskalieren.[10]

 

Bei stetigen und überschaubaren Migrationsbewegungen lassen sich das Recht der Flüchtlinge und das Recht der Bürger noch relativ leicht zum Ausgleich bringen, nur sehr schwer aber bei einem plötzlichen Massen­ansturm. Im aktuellen Fall kam noch eine gravierende Komplikation hinzu. Denn die Mitglieder der EU hatten 1985 damit begonnen, ihre Grenzen gegeneinander weitgehend zu öffnen. Mit dem Abkommen von Schengen waren die stationären Grenzkontrollen an vielen europäischen Binnengrenzen aufgehoben worden. Die Grenzen wurden am 4. September 2015 nicht geöffnet, sie waren offen. Die ungarischen Behörden konnten zwar aus dem Stand den Zugverkehr stoppen. Die in Budapest gestrandeten Männer, Frauen und Kinder aber konnten sie damals nicht daran hindern, sich dann eben spontan zu Fuß auf den Weg zu machen. Die Bilder gingen um die Welt.[11]

 

Die europäischen Arrangements, die sich mit den Namen Dublin und Schengen verbanden, hielten dem Druck nicht mehr stand. Diejenigen, die europäischen Boden nun einmal erreicht hatten, durften nicht im Stich gelassen werden. Die deutsche Kanzlerin versicherte: „Wir schaffen das!“ Die Länder entlang der Balkanroute allerdings errichteten Zäune, dort stauten sich alsbald Zehntausende in wilden Lagern. Die Union konnte dem nur wehren, indem sie sich einerseits über die Verteilung der Flüchtlinge einigte und sich anderseits der Außengrenze zuwandte. Ersteres ist bis heute nicht gelungen, mit letzterem begab sie sich in problematische Abhängigkeiten. Denn das Grenzregime z.B. zwischen der Türkei und Griechenland hatten de facto längst Schlepperbanden unter Kontrolle. Also musste die EU dort ähnliche Vereinbarungen mit der Türkei treffen, wie sie zuvor schon auf anderen Routen galten. Solche Vereinbarungen erfüllen ihre Regelungsfunktion aber nur, wenn sie sowohl schließen als auch öffnen. Denn Massenmigrationsströme, die die Grenzen dreier Kontinente überschreiten, können weder durch die totale Öffnung noch durch die totale Schließung in politisch-ethisch verantwortbar geregelten Bahnen gehalten werden. Wollen die Staaten in den Stabilitätsräumen das Heft des Handelns im Griff behalten, dann werden sie ihre Aufmerksamkeit und Kraft auf alle Phasen und Zonen der Migrationsströme richten müssen. Und damit rücken die folgenden Themen recht weit nach oben auf der politischen Tagesordnung: Migrationsursachen, Migrationsrouten, Grenzregime, Demographie, Integration. Die Zeit, all das verantwortlich zu gestalten, schwindet bereits. Denn viele Bürger überschätzen die Reichweite und die Geschwindigkeit politischen Handelns, reagieren enttäuscht und trotzig und entziehen der Demokratie ihr Vertrauen.

 

Es steht eine historische Entscheidung an. Der liberale Interventionismus der UN und die militärlastige Außenpolitik der USA und ihrer Verbündeten haben in den Jahrzehnten nach dem Ende des europäischen Kolonialismus zu sehr gemischten Ergebnissen geführt, das extreme Gefälle zwischen Zonen des Massenwohlstands und solchen des Massenelends aber nicht mindern können. Will das politische Europa sich künftig gegen die Krisen im Süden und Osten mit Mauern und Stacheldraht abschirmen, Pufferzonen jenseits der „Barbarengrenze“ einrichten und wenn das nicht reicht, Angreifer mit Spezialkräften und Distanzwaffen liquidieren und diese so umso mehr mit dem Anschein der Legitimität versorgen? Kurz: sollen die Gesellschaften in den stabilen Zonen ihr Zivilisationsversprechen auf die instabilen Zonen ausweiten oder sollen sie sich damit abfinden, dass die instabilen Gesellschaften ihre Probleme weiterhin ungehindert in die stabilen Gesellschaften projizieren?    

 

 

[1]   http://www.sueddeutsche.de/bayern/jugendliche-fluechtlinge-mutterseelenallein-1.1324918; zuletzt besucht am 09.12.2015.

[2]   Vgl. Deutscher Bundestag (2015): Situation unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge in Deutschland. Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage der Abgeordneten Luise Amtsberg, Beate Walter-Rosenheimer, Dr. Franziska Brantner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Drucksache 18/5564), Berlin.

[3]   Davy, Ulrike (2002): Das neue Zuwanderungsrecht: Vom Ausländergesetz zum Aufenthaltsgesetz, in: ZAR 5/6 (2002): 171-179.

[4]   https://www.tagesschau.de/ausland/reportage-budapest-fluechtlinge-101.html; zuletzt besucht am 29.8.2016.

[5]   http://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2015-04/fluechtlinge-lampedusa-unglueck; zuletzt besucht am 09.12.2015.

[6]   http://www.sueddeutsche.de/politik/seenotrettung-fuer-fluechtlinge-das-mittelmeer-wird-wieder-unsicherer-1.2199997; zuletzt besucht am 09.12.2015.

[7]   Council of the European Union (2015): Final report on Joint Operation "MOS MAIORUM" (5474/15), Brussels.; Statistisches Bundesamt (2015): Bevölkerung und Erwerbstätigkeit. Bevölkerung mit Migrationshintergrund – Ergebnisse des Mikrozensus – 2014, Wiesbaden.

[8]    Dieser Gedanke ist der Schrift „Zum ewigen Frieden“ von Immanuel Kant entliehen und wird im Essay über Politik näher erläutert und begründet.

[9]   Carens, Joseph H. (1987): Aliens and Citizens: The Case for Open Borders, in: The Review of Politics 49/1987/2, 251-273.

[10]  http://www.faz.net/aktuell/politik/fluechtlingskrise/fluechtlingskrise-die-eu-kann-auseinanderbrechen-13901572.html; zuletzt besucht am 09.12. 2015.

[11]  Vgl. http://www.zeit.de/2016/35/grenzoeffnung-fluechtlinge-september-2015-wochenende-angela-merkel-ungarn-oesterreich/komplettansicht, zuletzt besucht am 31.8.2016; http://www.faz.net/aktuell/ein-jahr-fluechtlingskrise-ueberrollt-14418217.html, zuletzt besucht am 5.9.2016.