Hartwig von Schubert

Hamburg 2016

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Die Geschichte der Moderne

 

 

Antike, Mittelalter, Neuzeit: ein eurozentrischer Blick

 

Mit den ersten Schriftzeichen ab 4.000 v. Chr. in Mesopotamien beginnt mit der Möglichkeit der schriftlichen Fixierung von Kommunikation die Frühgeschichte. Mit der Bronzezeit (in Mitteleuropa etwa im Zeitraum von 2200 v. Chr. bis 800 v. Chr.), gefolgt von der Eisenzeit (seit 1.700 v. Chr. beginnend in Hatti, seit 1.200 v.Chr. Ausbreitung im Nahen Osten und Mittelmeerraum) setzt sich der Gebrauch metallischer Werkzeuge und Waffen durch.

 

Die ersten Hochkulturen breiten sich in Asien und Afrika entlang großer Ströme aus, an Euphrat und Tigris, am Nil, am Indus und in China am Gelben Fluss.[1] Jahreszeitlich bedingte Überschwemmungen erlauben intensive Landwirtschaft und erfordern gleichzeitig großflächige Regulierungen und Vorratshaltung, die wiederum komplexe soziale Organisation einschließlich der Ordnung von Siedlungsraum und Kalender notwendig machen sowie schließlich hierarchische Herrschaft, Gesetzgebung und Rechtsprechung mit entsprechend aufwändiger schriftlicher Kommunikation und mythischer Legitimation. Die westasiatischen Hochkulturen stehen untereinander und mit dem Reich am Nil im Austausch. Da sich z.B. die chinesische Schrift nachweislich nicht aus der sumerischen Keilschrift oder aus ägyptischen Hieroglyphen entwickelt hat, muss die Schrift mehrmals erfunden worden sein.

 

Zu den Nachfolgern der frühen Hochkulturen zählen in Mesopotamien Assyrien und Babylonien, vom Iran aus auf Mesopotamien und den ganzen Nahen Osten ausstrahlend die Perser (Meder, Achämeniden, Parther und Sassaniden), im Mittelmeerraum die kretischen Minoer, die Mykenische Kultur in Griechenland, die Phönizier von Karthago bis in die Levante, dann die archaische und klassische griechische Kultur im gesamten östlichen Mittelmeer zwischen Sizilien, Unteritalien und Kleinasien, schließlich auf die Etrusker folgend und die griechischen Makedonen beerbend das Römische Imperium. In diese gesamte Epoche fällt ausgehend von zwei Kleinkönigtümern in der südlichen Levante, Israel und Juda, die Entstehung des Monotheismus.

 

Im Römischen Imperium markiert die so genannte Konstantinische Wende im Jahr 312 n. Chr. die Durchsetzung des spiritualisierten Monotheismus erst im Nahen Osten, bald im gesamten Mittelmeerraum sowie schließlich in ganz Europa und mit ihr den beginnenden Untergang des Polytheismus und Tieropferkults bis zu deren nahezu vollständigen Marginalisierung. Das Imperium Romanum erhebt mit dem Christentum den Monotheismus zum verbindlichen Mythos zur Legitimation seiner Herrschaft. In der Schlacht bei Adrianopel gegen die terwingischen Goten im Jahr 378 n. Chr. sowie in zwei Bürgerkriegsschlachten bei Mursa 351 und am Frigidus 394 erleiden römische Heere Aderlässe, von denen sich das Imperium nicht mehr erholt. Nach dem Untergang Westroms im 4. Jhdt. bleiben als Nachfolgekulturen des Römischen Imperiums das Byzantinische Reich (Ostrom), der in das osmanische Reich aufgehende arabische Islam und das aus der nordwest- und mitteleuropäischen Völkerwanderung hervorgehende lateinische Frankenreich. Der Tod des oströmischen Kaisers Justinian im Jahr 565, der das Reich letztmalig gegen die Goten und die sassanidischen Perser zur mediterranen imperialen Ausdehnung führte, markiert vielleicht am ehesten den Übergang von der Antike zum Mittelalter.

 

„Mittelalter“ ist eine durch und durch europäische, aus der Sicht der europäischen Neuzeit gegen sich selbst und gegen die – von ihr erst wieder neu „entdeckte“ – Antike abgegrenzte Epochenbezeichnung. Sein Beginn fällt mit dem Untergang Westroms zusammen und sein Ende mit dem Beginn der europäischen Expansion im 15. und 16. Jhd. Die sich anschließende „Neuzeit“ ist somit eine über das Mittelalter vermittelte Verbindung aus orientalischem Monotheismus und griechischer Wissenschaft in den Folgekulturen des römischen Imperiums.

Das „finstere Mittelalter“ war also gar nicht finster, sondern bahnte der Aufklärung den Weg? Diese These verdient eine besondere Begründung. Die aus der griechischen Klassik hervorgegangene Verwissenschaftlichung der Erfahrung, die mit der monotheistischen Religion verbundene Universalisierung und Entmythologisierung der Wirklichkeit und schließlich die Verrechtlichung von Machtansprüchen im römischen ius civilis sind gerade in ihrer Verschiedenheit drei bis in die Antike zurückreichende Hauptwurzeln der Moderne. Aber wo finden wir den weiteren Hauptstrom zur Moderne nach dem Untergang Westroms? Die Moderne ist ein Kind des nordwestlichen Europa und damit paradoxerweise eine Folge des Untergangs Westroms. Was gelegentlich im Übergang von der Spätantike zum Frühmittelalter mangels aussagekräftiger Quellen als „dunkles Zeitalter“ bezeichnet wird, war die Zeit der durch den Hunnensturm ausgelösten germanischen Völkerwanderungen, die man sich vermutlich weniger als große Siedlungszüge, sondern als einen stetigen Migrationsdruck aus dem Norden vorstellen muss. Das Mittelalter dagegen zeichnet sich beginnend mit der karolingischen Renovatio und kulminierend in der Renaissance gerade als Sammelbecken der in die Moderne führenden Zivilisationsprozesse aus. Mittelalterliche Klöster und Universitäten überliefern den Schatz antiker und spätantiken Wissens. Die kulturelle Evolution der Moderne, hat, soweit wir sehen, offensichtlich auf dieser Grundlage das höchst widersprüchliche Gebäude einer globalen Weltzivilisation hervorgebracht.

 

Ein Einwand gegen meine Hochschätzung des europäischen Mittelalters meldet sich umgehend: Eurozentrismus! Ruhen denn die großen asiatischen Hochkulturen etwa in Indien und China nicht auf eigenen Fundamenten? Und die unzähligen indigenen Kulturen Afrikas, Amerikas, Australiens und Ozeaniens, haben sie keine eigenen Wurzeln, haben sie keine außerordentlichen Zeugnisse hinterlassen? Selbstverständlich haben sie das, man betrachte nur den in seinen ältesten Schichten bis auf die Zhou-Dynastie (10./9. Jhdt. v. Chr.[2]) zurückgehenden klassischen Kanon konfuzianischer Literatur und daneben einen so herrlich subversiven Stoff wie die Räuber vom Liang Schan aus dem 14. Jhdt. n. Chr. .[3] Eine solche, auf zwei Jahrtausenden gründende und auch künftig weiterhin prägende Tradition wird auch durch die je nach Region 450 bis 150 Jahre nordatlantisch induzierter Modernisierung nicht einfach gelöscht. Wenn wir aber die herrschenden Modernisierungsprozesse verstehen wollen, wie sie seit den Landungen Columbus‘ 1492 auf den Bahamas und Vasco da Gamas 1498 nahe Calicut zum hoch ambivalenten globalen Schicksal geworden sind, dann müssen wir in den begrenzten Raum ihrer maßgeblichen Ursprünge in der mediterranen Antike und des europäischen Mittelalters zurückgehen und können erst dann fragen, wer sie aufnahm, verwandelte und weiterführte.

 

Die kulturelle Evolution vollzieht sich so wenig wie die biologische einfach flächendeckend und parallel auf allen Kontinenten, sie hat ihre dynamischen Ursprünge vielmehr in begrenzten Räumen. Aus der Theorie der biologischen Evolution kennen wir die so genannten Wawilow’schen Zentren.[4] Ähnliche Zentren kennt auch die kulturelle Evolution. Wie alle Hominiden stammt der moderne Mensch homo sapiens aus Afrika und aus keinem anderen Kontinent. Und die erste neolithische Revolution hat sich im Dreieck zwischen Anatolien, Mesopotamien und der syrophönizischen Landenge abgespielt. Das älteste Kultzentrum der Menschheit entstand vor 11.500 Jahren auf dem Göbekli Tepe in Südostanatolien. So ist es nun einmal gewesen, einen anderen Erkenntnisstand haben wir nicht. Und ebenso ist für die erste und bis heute maßgebliche Entwicklung eines umfassenden Wissenschaftsprogramms die griechische Philosophie maßgeblich und für die Geburt des Monotheismus in der Geschichte der menschlichen Religion das nachexilische Judentum. Und diese beiden je für sich genommen universal angelegten kulturellen Formationen „Wissenschaft“ und „Monotheismus“ trafen im ostmediterranen sowie klein- und vorderasiatischen Raum bereits in der Antike sich teils befehdend teils befruchtend aufeinander und bestimmten fortan den Charakter einer hellenistisch-lateinischen „Weltzivilisation“ zwischen Atlantik und Indischem Ozean, zwischen Hebriden und Sahara, die überdies im Imperium Romanum eine durch den limes nach außen und das ius civilis nach innen gefestigte politische Gestalt gewann.

 

Athen und Jerusalem stießen aufeinander, reichten ihre Prägungen an Rom weiter, diese wurden zunächst sowohl vom griechischen Byzanz, vom arabischen Islam und vom lateinischen Frankenreich aufgenommen und inzwischen von der gesamten Menschheit. Hätten die mongolischen Invasoren im 13. Jhdt. oder die türkischen Invasoren im 15. Jhdt. das spätere Europa in ihre imperiale Großreichsbildung integriert, dann wären vielleicht sie zu Trägern, Tradenten und Interpreten des mediterranen antiken Erbes geworden. So aber war es erst Byzanz, dann dem arabischen Islam, bald danach aber ausschließlich dem lateinischen Frankenreich und wiederum seinen Nachfolgekulturen vorbehalten, im nordwestlichen Viertel der Welt über mehrere Rezeptionswellen hinweg die Evolution der heutigen Modernen auszulösen.[5] Es brauchte dazu vor allem der seit der Cluniazensischen Reform im 10. und 11. Jhdt. hochorganisierten monastischen Bewegungen[6], des seit der Gregorianischen Reformen im 11. Jhdt. gefestigten Papstkirche und schließlich der etwa 70 autonomen Universitäten, die sich seit der Wende vom 12. zum 13. Jhdt. eben in Bologna, Paris und Montpellier, in Oxford und Cambridge, in Salamanca und Vallaloid, in Padua, Neapel und Lissabon / Coimbra, im 14. Jhdt. auch in Prag und Krakau, in Heidelberg und Köln, im 15. Jhdt. mit Kopenhagen und Uppsala auch in Skandinavien dauerhaft etablierten und etwa um das Jahr 1650 die Zahl 100 überschritten. Diese autonom verfassten und personenunabhängig organisierten Stätten wissenschaftlicher Bildung finden wir eben nicht in Alexandrien und Byzanz, in Bagdad, Cordoba, Cairo oder Isfahan, auch nicht in Peking, Kyoto oder Mumbay. Die europäische Universität charakterisiert vielleicht am deutlichsten die Voraussetzungen des „europäische Wunders“: Beginnend im 16. Jhdt. breitete sich das westlich-nordwestliche Europa bis zur Mitte des 19. Jhdts. über die gesamte Welt aus. Nicht chinesische Dschunken oder arabische Daus segelten den Ärmelkanal hinauf, sondern englische, französische und niederländische Kriegsschiffe kontrollierten dank überlegener Wissenschaft und Technik das Chinesische Meer, und europäische Ingenieure bauten den Suezkanal.

 

 

Der europäische Sonderweg

 

Im vierten Jhdt. begannen die östliche und die westliche Hälfte des römischen Imperiums, sich voneinander zu lösen. Im lateinischen Westen schwanden der Einfluss der griechischen Philosophie und Wissenschaft sowie des nach Asien gerichteten Fernhandels. Auf den wirtschaftlichen und kulturellen Niedergang folgte die Erstarrung staatlicher Strukturen, alles zusammen bot dem geistigen Streben immer weniger Entfaltungsmöglichkeiten, die lebendige geistige Auseinandersetzung wich einem zunehmenden christlich getönten Dogmatismus, dies allerdings im Osten ebenso wie im Westen. So ungefähr klang lange Zeit die dekadenztheoretische Deutung des Untergangs des weströmischen Reiches gegen Ende des fünften Jhdts.. Parallel wurden äußere Einflüsse geltend gemacht, vor allem der germanische Migrationsdruck aus dem Norden. Der historischen Überprüfung hält nur diese zweite These stand.[7] Erhebliche Kräfte waren im Osten durch das militärisch ebenbürtige persische Sassanidenreich gebunden, im Westen erschütterte die massiv und tief in den Kulturraum wirkende Immigration aus dem Norden die gesellschaftliche, insbesondere ökonomische Ordnung. So kam es schließlich in der zweiten Hälfte des vierten Jhdts. neben den üblichen Bürgerkriegen um die Cäsarenwürde zu einer katastrophalen militärischen Niederlage römischer Truppen am 9. August 378 bei Adrianopel gegen eine sträflich unterschätzte gotische Armee und mit weit wirkenden Folgen.[8] Und am 24. August 410 eroberten die Truppen des Gotenkönigs Alarich die Stadt Rom, was seit dem Galliersturm im Jahr 387 v. Chr., also über ein dreiviertel Jahrtausend lang niemandem mehr gelungen war. Insbesondere den weströmischen Eliten blieb gar nichts anderes übrig, als nicht nur dem wachsenden germanischen Einfluss in den staatlichen und gesellschaftlichen Strukturen stattzugeben, sondern eigenständige germanische Herrschaftsgebiete neben dem Provinzialsystem zu dulden. Im Jahr 476 verlässt denn auch die weströmische Kaiserwürde endgültig die Bühne der Geschichte.[9] So waren es am Ende drei Invasionsströme aus dem Nord- und Südosten, denen das antike Rom als politische Ordnung unterlag. Zum einen war es der Erfolg der über den Donauraum einbrechenden hunnischen Invasion im zweiten Drittel des vierten Jhdts., die die Immigration und Ethnogenese der West- und Ostgoten und Vandalen auslöste, zum anderen waren es die slawischen und die islamischen Invasionen, die Ostrom ab dem siebten Jhdts. daran hinderten, seinen bis dahin immer wieder erfolgreich erhobenen Machtanspruch auch im Westen wirksam durchzusetzen. Nach der Auflösung des einheitlichen antiken mediterranen Kulturraums war das auf Ostrom folgende byzantinische Reich nach außen in schweren Abwehrkämpfen gegen slawische und arabische, später osmanische Invasoren und innenpolitisch durch einen über ein Jahrhundert währenden Bilderstreit gebunden.

 

Vergleicht man das griechische Byzanz, den arabischen Islam und schließlich das lateinische Frankenreich als die drei Nachfolgekulturen der antiken Mittelmeerzivilisation mitsamt wiederum ihren Nachfolgekulturen, dann rechtfertigt es der generelle Vergleich der politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Entwicklung bis weit in die frühe Neuzeit hinein eben keineswegs, von einer Unterentwicklung des Orients gegenüber dem Okzident zu sprechen.[10] Verfolgt man allerdings angesichts des „europäischen Sonderwegs“ im 19. Jhdt. bestimmte Entwicklungslinien zurück, so stößt man auf verschiedene zum Teil bis ins frühe Mittelalter zurückreichende Umstände, deren eigentümliche Verkettung, Wechselwirkung und positive Verstärkung den über das Mittelalter bis in die Neuzeit verlaufenden Aufstieg Europas plausibel machen. Man kann diese Umstände grob sortieren.

 

 

Anfänge von Gesellschaft und Staat

 

Da ist zunächst die „Dezentralisierung der Herrschaft“ nach dem Untergang Westroms, gefolgt vom „Wachstum der Staatsgewalt“ im ausgehenden Mittelalter und in der frühen Neuzeit (Jussen 2005). Das Lehnswesen als ein Vertragsmodell auf Gegenseitigkeit jenseits familiärer Abstammungsbeziehungen setzte sich ausgehend vom karolingischen Zentrum in den meisten Regionen Europas im Laufe des Mittelalters durch. Charakteristisch war insbesondere die zweigeteilte Grundherrschaft, also die Ausdifferenzierung in einen von der Landbewirtschaftung befreiten Krieger auf der einen und einen entmilitarisierten Bauern auf der anderen Seite. Beide waren aufeinander angewiesen und akzeptierten die neue soziale Bindung, da sie der überkommenen Stammesverfassung überlegen war. Dieser Differenzierung folgten nun weitere, die regelmäßige Hoftage, Landtage, Heeres-, Reichs- und Synodalversammlungen erforderlich machten und schließlich zur Ausbildung einer ständisch gegliederten Gesellschaft führten. Die repräsentative parlamentarische Demokratie, die heute die politische Kultur der gesamten zivilisierten Welt prägt, geht auf die ständische Gesellschaftsordnung des europäischen Mittelalters zurück, die wiederum ganz wesentlich im spezifisch europäischen Feudalsystem gründet. Zu der stabilen Ausdifferenzierung und Pluralisierung politischer Herrschaft kam der besondere Dualismus von politischer und geistlicher Macht noch hinzu. Keine Religion der Welt war bis vor kurzem derart hoch organisiert und sozial und funktional ausdifferenziert wie das westliche Christentum seit dem frühen Mittelalter. In China datiert der Übergang von der stratifizierten zur funktionalen Differenzierung erst auf den Anfang des 19. Jhdts.[11] Nach dem Verlust des imperialen Zentrums erlebte der Westen den Aufstieg der Papstkirche und, eng mit dieser verflochten und dennoch durchaus eigenständig, den Siegeszug universaler Ordensgemeinschaften im Gegenüber zu den weiterhin bestehenden regionalen Kirchenprovinzen. Der Papst war niemals der Hofbischof des Kaisers, und die Papstkirche war niemals eine Reichskirche, sondern versammelte den populus Christianus in den Konzilien in eigenständiger Organisation und aus eigenem Recht.

 

Auf der weltlichen Seite sind wesentliche politische Ideen und Modelle ihrer Verwirklichung bereits in der Antike weit entwickelt worden. Vom 7. vorchristlichen bis zum 3. nachchristlichen Jhdt. erprobte die griechisch-lateinische Antike alle Herrschaftsformen vom Stadtstaat bis zum Imperium. Im „dunklen Zeitalter“ der Völkerwanderung, im byzantinischen Cäsaropapismus und im arabisch-osmanischen Islam drohte diese Vielfalt verloren zu gehen.

 

An die Stelle der pluralen politischen Philosophien der griechisch-lateinischen Antike tritt seit dem dritten nachchristlichen Jhdt. das Prinzip eines monarchischen Universalismus, der sich auch in islamischer Ausprägung fortschreibt. In der Großepoche des „konstantinischen Zeitalters“ durchdringen und überformen Religion und Politik einander so machtvoll, dass sie und neben ihnen auch die Wissenschaft ihre Eigenständigkeit nur in einer der drei Nachfolgekulturen der Antike wiedererlangen können und das auch dort in vollem Umfang erst nach anderthalb Jahrtausenden. Die Emanzipation der Politik von der Religion sowie der Religion von der Politik hat ihren Keim bereits im Niedergang der weströmischen Herrschaft. Sie kann an den johanneischen und augustinischen Dualismus von Reich Gottes und Reich der Welt sowie an die Tradition des römischen Zivilrechts anschließen, sie beginnt aber staatspolitisch erst mit der Aristotelesrezeption durch die Scholastik, dynamisiert durch den Investiturstreit.

 

Die Politik erhält erst im Humanismus des 16. Jhdts. mit dem Begriff der Nation eine eigenständige Legitimationsgrundlage. Das „Wachstum der Staatsgewalt“ im Konzert der Nationen wird nun das beherrschende Thema politischen Denkens vom italienischen Humanismus über die Reformation bis zum Vorabend der Französischen Revolution. Diese Gewalt jedoch ist die des neuzeitlichen Absolutismus. Wenn auch in dieser Ausprägung, verdankt die Sphäre des Politischen ihre Eigenständigkeit ideengeschichtlich doch einer wechselseitigen Selbstbeschränkung von Religion und Politik, die in der biblischen Tradition angelegt, am Ende des Mittelalters in der Zwei-Regimenten-Lehre Luthers theologisch auf den Begriff gebracht[12] und durch die kantische Unterscheidung von Glauben und Wissen in die Neuzeit übersetzt und philosophisch systematisch ausgebaut wird.

 

Erst jetzt kann plausibel gemacht werden, wie die Demokratie in einem noch einmal zweihundertjährigen und überaus krisenträchtigen Prozess auf der Grundlage der Idee nationaler Selbstbestimmung mit großem Erfolg die Legitimation staatlicher Herrschaft übernehmen konnte. Die Erfolgsgeschichte des demokratischen Nationalstaats verleitet allerdings nur allzu leicht dazu, diese Staatsform für das Standardmodell von Staatlichkeit und für das ausschließliche Medium des Politischen zu halten. Jegliche Form von moderner Staatlichkeit ist nach den vielfältigen Krisen der Moderne sowie unter dem Druck der Globalisierung heute im Wesentlichen zwei neuen Entwicklungen ausgesetzt: der Internationalisierung und der Privatisierung politischen Handelns. Beide schwächen den Staat hinsichtlich seiner mühsam errungenen Rolle als Herrschaftsmonopolist, so dass geradezu von einem Zerfasern gesprochen werden kann, ohne ihn freilich damit substantiell zu entmachten. Was nämlich viel wichtiger ist: beide Entwicklungen stärken ihn zugleich in seiner neuen Rolle als Herrschaftsmoderator und ermöglichen es ihm überhaupt erst, die Reichweite seines Einflusses weit über die nationale Gebietshoheit hinaus auszudehnen. Der Begriff politischer Souveränität muss das reflektieren, und der Anspruch an staatliches Regieren erhöht sich damit noch einmal dramatisch!

 

Damit kann der letzte Schritt gegangen werden. Neben die traditionelle Legitimation aus dem im Wesentlichen national begriffenen Gesellschaftsvertrag tritt zunehmend die Legitimation aus den universalen Menschenrechten. Die Menschenrechte bestimmen von ihrem Anspruch her das Verfassungsrecht der Nationalstaaten ebenso wie das Handeln internationaler Organisationen, sie sind vorstaatliches Recht, an dem sich alles politische Handeln – staatlich wie nichtstaatlich – zu messen hat. Dann aber stellt das Menschenrecht nicht nur vorstaatliche, sondern sogar vorpolitische Normen bereit, die ihrerseits wiederum auf einem vornormativen Grund aufruhen. Eine politische Menschenrechtsethik muss den Rechtsstaat fordern, der aber eben auch ein Rechtsstaat ist. Es ist sicherlich weder realistisch geschweige denn wünschenswert oder ethisch verantwortbar, dass „die OECD-Welt“ oder ein anderer geopolitischer Player einen bestimmten Gesellschaftstyp samt seiner Staatsformen mit der Absicht neoimperial in diverse Weltgegenden exportiert, sie erneut als „Kolonien“ ausbeuterisch an imperiale Wirtschaftskreisläufe zu ketten. Vielmehr stärkt die Entwicklung von Eigenstaatlichkeit die adressierten Gesellschaften und bringt auch die späteren gegenüber den früheren Modernisierern endlich auf Augenhöhe. Noch werden in den WTO-Verhandlungen ganze Regionen aus entscheidenden Prozessen ausgegrenzt, noch ist der VN-Sicherheitsrat von einer angemessenen Repräsentativität weit entfernt. Nach wie vor verletzt die selektive Auswahl der Einsatzgebiete der Friedensmissionen der VN das Prinzip der Rechtsgleichheit. Noch immer steuern privatrechtliche Hilfsorganisationen ihre Mittel und ihre Macht nach aktueller Medienlage anstatt nach Bedürftigkeit. Wer aber will dem entgegentreten, wenn er nicht „Staat“ machen kann? Auf der Skala möglicher Staatlichkeit von der bloßen Staatsfassade – z.B. das derzeitige Somalia – bis zum ausgereiften politischen Anstaltsbetrieb mit konsolidierten Gewaltmonopol im Sinne Webers gibt es eine ganze Fülle von historischen und aktuellen Staatsformen. Eine politische Menschenrechtsethik postuliert Staatlichkeit als ein auf ein Territorium bezogenes, in sich komplex strukturiertes Monopol rechtserhaltender Gewalt. Eine solche Staatlichkeit ist durchaus als ein Nebeneinander von souveränem Staat und traditionellen Gesellschaftsstrukturen zu denken. Hierzu gehören ja auch alle Formen von Public Private Partnership in den entwickelten Staaten. Entsprechend sind auch neopatrimoniale Gewaltordnungen in Entwicklungs- und Schwellenländern daraufhin zu betrachten, welche Perspektiven sie bieten, sich zu zivilisieren und sich aus prekären Abhängigkeiten heraus, z.B. vom Rentenstaat zum Steuerstaat, in Richtung auf Verrechtlichung und Staatlichkeit zu entwickeln.

 

 

Die Karriere des Marktes

 

Ein weiteres Bündel spezifischer Faktoren für den europäischen Sonderweg und die auf ihn folgende Globalisierung lässt sich wirtschafts- und umweltgeschichtlich beschreiben.[13] Die klimatischen Gegebenheiten im nordalpinen Europa begünstigten eine frühmittelalterliche Agrarrevolution, die zu einem komplexen und umfassenden System aus Dreifelderwirtschaft, Viehzucht mit Wald- und Waldwirtschaft und der dazu notwendigen Koordination grundherrlicher und bäuerlicher Arbeitsprozesse führte. Der schwere Pflug und die Wassermühle zur Verarbeitung der gestiegenen Ernteerträge stehen exemplarisch für die deutlichen Unterschiede zu der in etwa zeitgleichen Agrarrevolution im islamischen Raum. Im Westen differenziert sich diese Entwicklung sehr viel weiter aus bis hinein in gewerbliche und frühindustrielle Tätigkeiten. Ein weiteres ökonomisches Charakteristikum war die Verbindung von Kreuzzügen, die als „Kriege der Päpste“ keineswegs nur auf Palästina gerichtet waren, und dem frühen mediterranen Binnenkolonialismus der italienischen Seerepubliken Amalfi, Genua, Pisa und natürlich Venedig. Auch das islamische Granada beteiligte sich daran. Nur diejenigen Seestädte waren erfolgreich, die dank ihrer Randlage nicht der unmittelbaren Herrschaft eines Territorialfürsten unterstanden. Einen solchen Typus des Kaufmanns als Regenten oder des Regenten als Kaufmann gab es in dieser Ausprägung nirgendwo sonst, und auch nur auf dieser Grundlage machte wiederum die Gründung von Kolonien in einem dank guter Beziehungen zu den islamischen Mächten interkontinental angelegten Fernhandel einen Sinn. In den östlichen Reichen gab es solche Städte nicht, weder in Byzanz noch in den Kalifaten, auch nicht in China. Und diese Städte wiederum waren die Brunnenstuben einer kommerziellen, wenn nicht gar kapitalistischen Revolution, die mit dem Aufstieg von Handelshäusern, Banken und Börsen den Weg in die Ausdifferenzierung von Kapitalwirtschaft und Industrialisierung der Neuzeit wiesen und ihren Schwerpunkt seit dem 15. Jhdt. von Norditalien an den Ärmelkanal verlagerte, um von dort aus dem Beginn der Industrialisierung in England den Weg zu ebnen. Gleichwohl reicht dieses Charakteristikum keineswegs aus, den europäischen Sonderweg zu erklären. Wieder am Beispiel Chinas: die chinesischen Gesellschaften der späten Ming im 15. und 16. Jhdt. bündelten politische, industrielle, kommerzielle und kulturelle Innovationen in einem Ausmaß, das in Europa erst im 19. Jhdt. erreicht wurde.[14]

 

 

Revolutionen des Wissens

 

Entscheidend für den europäischen Sonderweg ist die Revolution der akademischen Bildung des frühen Mittelalters. Die Übersetzung der antiken Überlieferung aus dem Griechischen ins Arabische setzte bereits früh in Bagdad ein. Zu den wichtigsten Vertretern der islamischen falsafa zählen Al-Kindi, der bereits im 9. Jhdt. nahezu alle griechischen Quellen kannte, der aus Zentralasien stammende und in Bagdad und Syrien wirkende al-Fārābī, die persischen Gelehrten al-Ghazali und Ibn Sina (lat.: Avicenna), letzterer berühmter Autor des canon medicinae und schließlich Ibn Rushd (lat.: Averroës), der Kommentator des Aristoteles im Andalusien und Magreb des 12. Jhdts. .

 

Eine weitere Übersetzungswelle nun aus dem Griechischen und dem Arabischen ins Lateinische folgte im 12. Jhdt. vor allem in Katalonien. Nun wurde auch im lateinischen Westen das gesamte corpus Aristotelicum bekannt. Damit stand ein Wissenschaftsverständnis bereit, das sich in den nun entstehenden Universitäten durchsetzte, seit Mitte des 13. Jhdts. die philosophische Debatte beherrschte und in Gestalt eines methodischen Skeptizismus[15] bis heute prägt. Es waren vornehmlich Naturwissenschaftler und Mediziner und nicht die Theologen an den Dom- oder Klosterschulen, die die Aneignung des neuen Wissenschaftsmodells vorantrieben. Insbesondere die Natur wurde nicht mehr länger nur in symbolischer und spekulativer Weise parallel zur Heiligen Schrift ebenfalls als ein „Buch“ gelesen, sondern zunehmend sowohl in epistemisch-theoretischem als auch in alltagspraktischem Interesse als physische Realität allein mit den Mitteln der Beobachtung und der logischen Argumentation erforscht. Je mehr sich das Wissen über die natürlichen Dinge erweiterte, desto mehr zeichnete sich eine eigenständige scientia naturalis mit einem zusammenhängenden Feld von Gegenständen und Argumentationsmustern ab.

 

Der wissenschaftliche Neubeginn war indes keineswegs allein die Folge der Übersetzung und Rezeption des Aristoteles und seiner arabischen Kommentierung. Antike und spätantike Gelehrsamkeit hatte sich auch originär im lateinischen Westen erhalten, hier wirkten das Werk des um die Wende zum 5. Jhdt. lehrenden Augustin, die Schriften des 130 Jahre nach Augustin unter ostgotischer Herrschaft geborenen Boethius, des letzten aktiven Kenners der griechischen Philosophie im lateinischen Westen sowie die Texte eines nur unter dem Pseudonym Dionysios Areopagita bekannten Zeitgenossen des Boethius. Hinzu kamen römische Dichter und Schriftsteller (z.B. Cicero für die Prosa, Horaz für die Lyrik). Nach den Verlusten zwischen dem späten 3. und dem späten 6. Jhdt. war vieles oftmals nur in Gestalt oberflächlicher Handbücher und Zusammenfassungen der griechischen und lateinischen Originale greifbar. Ganz besonders aber wurde das theoretische Interesse an den arabischen Quellen durch die Wiederentdeckung von Platons Timaios vor allem in der Schule von Chartres geweckt. Wenn dort gelehrt wurde, dass natürliche Vorgänge wie das in der biblischen Schöpfungsgeschichte beschriebene Verdunsten von Wasser auf dem Lande oder das Regnen aus den Wolken schlüssig aus gesetzmäßigen Ursachen erklärt werden kann, dann machte dies neugierig, alles aufzunehmen, was diese Annahme bestätigte. Und wenn nun komplexe Erscheinungen auf der Suche nach den zugrundeliegenden Ursachen und übergreifenden Gesetzen mehr und mehr zerlegt wurden, so ging dadurch zwar der unmittelbare sinnliche Zugang verloren, die Gewissheit der Erkenntnis wurde dadurch aber umso mehr gefestigt. Die Triebfeder dieser Suche war weniger der Drang nach praktischer oder technischer Aneignung der Natur als vielmehr das Bedürfnis nach einer geistigen Vergewisserung in unumstößlichen Wahrheiten als Schutz vor möglichen Irrtümern, Widersprüchen und Streitereien über das, worauf es im Leben wirklich ankommt. Es ist der bereits in der Genesis und im Timaios abgebildete und bis heute lebendige Wunsch, zu einer verlässlichen und deshalb konsistenten einheitlichen Schau der Welt und des Universums zu kommen, die nun nach einer „Theorie“ im Sinne des Aristoteles ruft. Und keineswegs erst im Spätmittelalter, sondern bereits im 12. Jhdt. und ebenfalls in Chartres wurde deshalb auch die Mathematik zur methodischen Unterstützung der Physik herangezogen. Die artes liberales, also das sprachliche trivium Grammatik, Methodik und Logik und das mathematische quadrivium Arithmetik, Geometrie, Astronomie und Musik waren nicht länger nur Vorübungen für die eigentlichen wissenschaftlichen Fächer Theologie, Jurisprudenz und Medizin, sondern erhielten zusammen den Rang einer einheitlichen Wissenschaft. Wenn die Summe aller Dinge in der Einheit Gottes beschlossen ist, so ist die Öffnung und Entfaltung der Natur in ihrer ganzen Vielfalt nicht dem Zufall, sondern einer inneren Gesetzmäßigkeit zuzurechnen. Und deshalb ist die Suche nach den Ursachen in der Natur nicht nur möglich, sondern auch legitim. Alles zusammen lieferte ein starkes Motiv für die Neugier auf das in Arabisch und Griechisch vorliegende ganze Werk des Aristoteles. Dessen Übersetzung ins Lateinische und anschließende kritische Erschließung durch Albert den Großen zwischen 1251 und 1267 in Köln und ihre Fortsetzung durch seinen Assistenten Thomas von Aquin sollte die in Oxford (Robert Grosseteste bis Roger Bacon) beheimatete und eher platonisch geprägte Naturphilosophie und Naturwissenschaft ablösen.[16] Albert „ist der erste und der einzige Gelehrte des Mittelalters, der nach dem Bekanntwerden der Schriften des Aristoteles (samt der sie flankierenden, Exegese durch griechische, arabisch-persische und jüdische Gelehrte) in lateinischen Übersetzungen eine konstruktive Auseinandersetzung mit seiner Philosophie in toto und die Adaption sowie die Vervollständigung seines Wissenschaftssystems für die vordringlichste wissenschaftliche Herausforderung der Zeit erkannte, sich zu seiner Aufgabe machte und im vollen Umfang verwirklichte“.[17] „Konstruktiv“ bedeutet hier im Sinne der kirchlich-dominikanischen Reformen. Ohne diese Anstrengungen wäre das aristotelische Erbe im lateinischen Westen dem damals bereits akuten Häresieverdikt zum Opfer gefallen.

 

Denn die Entdeckung der antiken Originale stellte trotz der Bemühungen Alberts und des Aquinaten den Status der christlichen Theologie als Wissenschaft infrage, denn schließlich es gab nicht nur diesen oder jenen Widerspruch in der Bibel etwa auf der Ebene der Naturphilosophie respektive Schöpfungstheologie. Es war nun absehbar, dass sowohl die empirisch-experimentelle Methode als auch die Emanzipation der Einzelwissenschaften die Theologie als Bibelstudium erst schrittweise, dann prinzipiell hinter sich zurücklassen würden. Umgekehrt stellte die Konfrontation mit der griechischen und arabischen Philosophie den Status der vorchristlich-heidnischen, schlimmer noch, der nachchristlich-häretischen Wissenschaft als für die christliche Zivilisation produktive Form symbolischer Kommunikation zur Debatte: Wie können Heiden und Irrlehrer überhaupt vernünftig sein? Stand die christliche Theologie intellektuell unter erheblichem Druck, so die Wissenschaft theologisch, und dies weit wirksamer, nämlich durch die direkte religionspolitische Aufsicht der innerhalb der Wissenschaften vor allem durch die Abtei von Cluny machtvoll repräsentierten und reformfreudigen Papstkirche.

 

Diese Spannung wurde aufgehoben in einer bisher nie dagewesenen, selbst in der Antike nicht anzutreffenden Institution, der europäischen Universität. Die Universität als inhaltlich und organisatorisch fächerübergreifend selbstverwalteter Verband von Studenten und Lehrern ist eine welthistorisch gar nicht hoch genug einzuschätzende Erfindung des europäischen Mittelalters. Beginnend mit dem Übergang vom 12. zum 13. Jhdt. breitete sich in Europa neben den Schulen an Klöstern, Kathedralen und Höfen ein ganzes Netz von Universitäten aus mit einem allgemein anerkannten Fächerkanon, untereinander universal anerkannten Ämtertiteln zur Lehrbefugnis und eigener Gerichtsbarkeit. Das Prinzip der autonomen und gegliederten Bildungsinstitution sollte nach einem weiteren Entwicklungsprozess von mehr als einem halben Jahrtausend schließlich das Antlitz der Erde verändern: „Keine andere europäische Institution hat wie die Universität mit ihren überlieferten Strukturen und ihren wissenschaftlichen Leistungen in der ganzen Welt universale Geltung erlangt“.[18] Den Titel der ältesten Universität können je nach Betrachtungsweise Bologna und Paris beanspruchen. In Bologna schlossen sich zwischen 1180 und 1190 erstmals wandernde Rechtsgelehrte gegen den Willen der Stadtverwaltung entsprechend ihrer Herkunft zu autonomen „Nationen“ und diese wiederum zu „Universitäten“ zusammen, die ihre Professoren unter Vertrag nahmen. In Paris gab es seit 1208 die erste autonome Korporation von Lehrern verschiedener Disziplinen, um die plötzlich anschwellende Zahl neuer Lehreinrichtungen inhaltlich und organisatorisch zu ordnen. Zu dauerhaften Institutionen wurden die Universitäten jedoch erst durch den Schutz und die Rechte, die ihnen von Kaisern, Königen und Päpsten verliehen wurden. Der Name universitas bezeichnete im Mittelalter zunächst Genossenschaften jeglicher Art, insofern konnten die neuen Bildungsgenossenschaften ihre Amtsbezeichnungen, ihre Regeln und Funktionen anderen bereits gut organisierten Genossenschaften des Handwerks, der Seefahrt etc. entlehnen. Bei den Motiven der Studenten für eine höhere Bildung verbanden sich geistige Neugier und Interesse an inhaltlichen Fragestellungen mit den Hoffnungen auf eine allgemeine Verbesserung der sozialen Stellung – jeweils bezogen auf die von Student zu Student durchaus sehr unterschiedliche soziale Herkunft – bis hin zur Erzielung eines dauerhaften Einkommens aus der Tätigkeit eines Juristen, Mediziners oder Theologen. Im genossenschaftlichen Zusammenschluss vertraten die bis dahin vereinzelten Studenten ihre Interessen gemeinsam gegenüber ihren Lehrern und der übrigen Gesellschaft. Und Studenten und Lehrer zusammen artikulierten ihre gemeinsamen Interessen in Gestalt von päpstlich oder kaiserlich akkreditierten rechtlichen und ökonomischen Privilegien gegenüber den örtlichen kirchlichen und politischen Autoritäten, also den Bistümern, Klöstern, Königshöfen und Bürgerschaften. Insbesondere die Päpste entdeckten in den Universitäten Bundesgenossen bei der universalen Durchsetzung sowohl ihrer lehramtlichen Autorität gegenüber den Regionalkirchen als auch ihrer politischen Ansprüche gegenüber den weltlichen Mächten und waren deshalb auch zu Konzessionen gegenüber den neu belebten freien Künsten bereit.[19] Die Könige wiederum versprachen sich von den Universitäten Unterstützung beim Aufbau ihrer Verwaltungsstäbe im Gegenüber zu den Ständen und den Städten. Die großen Metropolen schließlich mussten nachziehen, um den königlichen und kirchlichen Beamten auf Augenhöhe begegnen zu können, um in wirtschaftsrechtlichen Konflikten untereinander erfolgreicher zu bestehen und die Karrierechancen der Bürgersöhne zu verbessern. Und nicht zuletzt der Zustrom reicher Studenten versprach, die Investitionen einer Universitätsgründung zu rechtfertigen.

Es sollte aber noch lange dauern, bis ein akademischer Grad für eine Karriere außerhalb der Universität wichtig wurde und bis die klassischen vier Fakultäten der artes, der Medizin, der beiden Rechte und der Theologie um praktischen Disziplinen wie Architektur, Bergbau, Mechanik oder gar die modernen Naturwissenschaften ergänzt wurden. Erst im 15. Jhdt. „wurde das Universitätsstudium, zunächst ohne, später mit Abschluss, auf den Gebieten der Seelsorge, Rechtspflege, Staatsverwaltung, des Gesundheits- und Bildungswesens zum Kennzeichen professioneller Eliten“.[20]

 

 

Europäische Expansion: Modern World System und Histoire Totale

 

Den Beginn der europäischen „Neuzeit“ charakterisiert eine weltweit einzigartige Akkumulation kulturell-wissenschaftlicher und politisch-ökonomischer Entwicklungen. Denn durch das gesamte europäische „Mittelalter“ hindurch, also von der Spätantike bis in die frühe Neuzeit hinein war Europa ein sicherlich wichtiger Teil, keineswegs aber das Zentrum eines drei Kontinente verbindenden afroeurasischen Kommuni­kationsnetzes von Karawanenwegen, Gebirgspässen, Seewegen und Seidenstraßen, über welches die Regionen sich wechselseitig beeinflussten. Die Rede ist von dem Westasien, Nordafrika und Südeuropa verbindenden mediterranen Becken, von der langen Linie der Küstenregionen Ost-, Süd-Ost- und Südasiens, vom Industal, vom chinesischen Kernland und von den eurasischen Steppen. Im „langen“ 16. Jhdt., also zwischen 1450 und 1620, kam es zur Einbeziehung Süd- und Nordamerikas und parallel zu einer interkontinentalen kulturellen Verdichtung, wirtschaftlichen Verflechtung und militärischen Konfrontation, die es zusammengenommen erlauben, von einem globalen Prozess in Richtung auf ein Modern World System (Wallerstein), einer Histoire Totale (Braudel) oder einem Columbian Exchange (Crosby) zu sprechen.[21] Auch dieser Prozess ging zunächst keineswegs immer einseitig expansiv von Europa aus. Man denke nur an die erste türkische Belagerung Wiens im Jahre 1529 und die zweite im Jahre 1683. Wohl aber formierten sich im Laufe dieser Periode die vielfältigen Strömungen zu einer zentrifugal von West- und Nordeuropa ausgehenden Modernisierung. Denn was immer das Abendland von anderen Weltregionen aufnahm, bzw. was diese Regionen von sich aus ins Abendland hineintrugen, wurde dort in kulturelle Formen integriert, deren wissenschaftlich-technisch-kapitalistisch-industrielle Evolution den europäischen Mächten jene Überlegenheit gab, mittels derer sie sich endgültig im 19. und 20. Jhdt. über die gesamte Welt ausbreiten konnten. Selbst bei dieser Sichtweise muss keineswegs unterstellt werden, dass die übrigen Weltregionen von besonderer innerer Schwäche und Stagnation befallen gewesen wären. Im Gegenteil löste oftmals erst der europäische Einfluss diejenigen gravierenden Veränderungen in den betroffenen Kulturen aus, die den Abstand zwischen frühen und späteren Modernisierern sogar noch vergrößerten.

 

Zunächst jedoch verschob sich im 16. Jhdt. innerhalb des europäischen Kontinents das zivilisatorische Zentrum geographisch vom mediterranen Südwesten zum atlantischen Nordwesteuropa. Die ausgedehnte und enorm dicht besiedelte Städtekultur entlang der großen Flussmündungen – Rhein, Themse, Schelde – beiderseits des Ärmelkanals avancierte ab dem Ende des 16. Jhdts. zum europäischem Gegenpol des Mittelmeerraums und künftigen Zentrum des Welthandels. Von dieser Zeit an konsolidierten sich England unter den Tudors und Frankreich unter den Valois als souveräne Nationalstaaten gegenüber der Papstkirche und gegenüber dem den deutschen und spanischen Sprachraum umfassenden Habsburger Reich. Deren kontinuierlich wachsende Staatsgewalt nach innen und nach außen wurde zum Vorbild von Nationalstaatsbildungen weit über die europäischen Grenzen hinaus. Die Republik der Vereinigten Niederlande, eigentlich eine Föderation von Städten, bildete in dieser Mächtekonstellation einen Sonderfall. Eine starke Parallele zwischen England und Holland bildeten allerdings der große Einfluss der Stände in den Parlamenten und die protestantische Prägung. Noch in der ersten Hälfte des 16. Jhdts. lag der europäische Fernhandel in den Händen von Portugiesen, Spaniern und Italienern, bereits 50 Jahre später begannen die Engländer und Holländer ihnen den Rang abzulaufen. Als nach der Rückeroberung Antwerpens durch die Spanier 1585 die Scheldemündung blockiert wurde, verlagerte sich der Finanz- und Handelsschwerpunkt vom südniederländisch-katholischen Antwerpen auf das nordniederländisch-protestantische Amsterdam, in dem sich nun der innereuropäische Nord-, Ostsee- und Mittelmeerhandel und der interkontinentale Fernhandel der äußerst starken landwirtschaftlichen und textilindustriellen Eigenproduktion kreuzten. England wechselte unter Elisabeth I. in der Mitte des Jahrhunderts von der Seite Spaniens an die Seite Frankreichs und Hollands. Die spanische Armada fiel 1588 im Kanal einem atlantischen Orkan zum Opfer und dies mit epochalen Folgen: Der englische Fernhandel entfaltete sich von London und den südenglischen Küstenstädten aus parallel zum niederländischen, die Kolonisierung Nordamerikas begann, die Vormacht der Spanier in der Karibik wurde gebrochen. Den Rahmen dieses Aufstiegs der Niederlande und Englands zu den Führungsnationen der Europäischen Expansion lieferte die günstige geographische und wirtschaftliche Lage, die darin ideengeschichtlich ausschlaggebenden Faktoren waren jedoch politischer und konfessioneller Art.

 

Selbst bei Anerkennung des niederländischen und englischen Vormarsches im interkontinentalen Welthandel relativiert sich dieser angesichts der traditionellen Präsenz arabischer, persischer, indischer, malaiischer, chinesischer, und natürlich weiterhin spanischer und portugiesischer Handelsaktivitäten. Bestimmte Besonderheiten der europäischen, speziell nordwesteuropäischen, Expansion zeichnen sich jedoch früh ab. So waren einzig europäische Großraumschiffe auf Kosten der Ladekapazitäten mit schwerer Schiffsartillerie ausgerüstet, denn die europäischen Staaten unterstützten ihre Flotten bis hin zum offenen Kaperkrieg. China, nach dem Wechsel von Papier- zu Silbergeld in hohem Maße auf Silber angewiesen, ließ sich das Edelmetall vor allem von den Spaniern aus lateinamerikanischen Minen über den Pazifik und die Philippinen liefern. Selbst die bis nach Südafrika ausgreifenden und 1433 abgebrochenen Expeditionen des Admirals und Eunuchen Zheng He standen nicht im Zeichen des Fernhandels und lösten keinen „kolumbischen Austausch“ von Populationen, Arten und Ökonomien aus, sondern beschränkten sich auf die in Süd- und Südostasien traditionelle chinesische Tributpolitik. Und schließlich: Hatten die Spanier ihre Versuche, Handelsstützpunkte in Japan zu gründen durch ihren religiösen Missionseifer zunichtegemacht, so verzichteten die Niederländer ausdrücklich auf die Kopplung von Handel und Mission und arrangierten sich mit den lokalen Machtverhältnissen. In Südamerika waren die präkolumbianischen Kulturen den iberischen Eroberern hilflos ausgeliefert, Rivalen aus Europa und Asien – der Islam und China – blieben dort aus, der Subkontinent wurde „lateinisch“.

 

 

Die Revolution der Naturwissenschaften

 

Um die Dynamik der Europäischen Expansion in ihrem Kern zu erfassen, ist insbesondere die Wissenschaftsgeschichte weiter zu verfolgen: Parallel zu der beschriebenen geographischen und politisch-ökonomischen Schwerpunktverlagerung vollzog sich kulturell ebenfalls ein folgenreicher innereuropäischer Wandel von der mittelalterlichen Scholastik zum frühneuzeitlichen Humanismus, zur Renaissance und zur Reformation. Ganz gleich, wo man angesichts der vielen kulturellen Veränderungen die Epochengrenzen zieht, charakteristisch für die europäische Entwicklung vor der Aufklärung ist das Pathos der oftmals sogar erst nachträglich als solche gefühlten Renaissancen. Die Reihe beginnt bereits im 6. Jhdt. mit römischen Gelehrten wie Cassiodor und Boëthius, die bereits unter ostgotischer Herrschaft antikes Bildungsgut in das lateinische Frühmittelalter überlieferten, sowie im 8. Jhdt. mit der Karolingischen renovatio. Sie setzt sich über die Cluniazensische Reform und die großen Übersetzungsbewegungen des 12. und 13. Jhdts. mit der anschließenden Scholastik über die Renaissance bis zur Reformation und zur Aufklärung fort. Gerne legitimierte man die Neuerung durch die Berufung auf die nach einer Periode des vermeintlichen Verfalls „wiederentdeckten“ antiken griechischen, urchristlichen oder römischen Quellen. Dies gilt für die Poesie der beiden italienischen Francesco Petrarca und Dante Alighieri im 15. Jhdt. oder die Briefe und Editionen des Niederländers Erasmus von Rotterdam im 15. und 16. Jhdt. ebenso wie für die Bildnisse der Italiener Leonardo Da Vinci, Tizian und Donatello sowie schließlich für die Interpretation der biblischen Quellen durch die Reformatoren in Wittenberg, Zürich und Genf. Bereits deutlich nachlassend gilt dies für das literarische Werk und Theater William Shakespeares und die Staatsphilosophie Niccolò Machiavellis. Als endgültige Überwindung, Ablösung und Überbietung sowohl der Antike als auch des Mittelalters verstanden sich erst die naturwissenschaftlichen Revolutionen des 16. und 17. Jhdts. und in ihrer Folge die Aufklärung. Die politik- und wirtschaftsgeschichtliche Betrachtung allein also erklärt den europäischen Sonderweg nicht. Erst zusammen mit ihrer insgesamt hohen kulturellen Binnendynamik wird die globale Durchschlagskraft der europäischen Expansion am Ende verständlich.

 

Lange Zeit herrschte die Meinung vor, die neuzeitlichen Naturwissenschaften hätten dem scholastischen Universitätsbetrieb nur gegen großen Widerstand und zu hohen Kosten abgetrotzt werden können. Das aber ist wenig plausibel, denn ohne die universitäre Infrastruktur hätte auch nicht einer der „Revolutionäre“ seine Wirkung erzielen können.[22] Von einer Revolution aber darf man tatsächlich sprechen, denn erst in der zweiten Hälfte des 16. Jhdts. und dann in deutlich höherem Maße im 17. Jhdt. kommt es nach heftigen Auseinandersetzungen zu einer gründlichen Überschreitung des klassischen wissenschaftlichen Erbes und zum rasanten Siegeszug radikal neuer wissenschaftlicher Theorien. Die großen Namen werden gerne zitiert: Bacon, Boyle, Descartes, Galilei, Kepler, Kopernikus, Newton. Bereits um 1700 hatte sich die heliozentrische Lehre international durchgesetzt.[23] Es gab niemanden mehr, der die aristotelische Physik vertrat. Die herkömmliche Einteilung in die Wissenschaften der himmlischen und der irdischen Körper wurde durch Galilei und Newton aufgehoben, das Fernrohr und das Mikroskop eröffneten Einblicke in Makro- und Mikrokosmos. So sehr kulturgeschichtliche Einflüsse etwa der Reformation und sozioökonomische Bedingungen des Frühkapitalismus ganz gewiss erheblich zum Aufstieg der modernen Naturwissenschaften beigetragen haben, so sehr sicher auch das Genie der jeweiligen Forscherpersönlichkeit eine große Rolle spielte, ohne das Forum eines internationalen akademischen Netzwerks in Gestalt der Universitäten hätte der wissenschaftliche Aufbruch kaum eine solche Stellung in der Gesellschaft erreichen können, wie dies tatsächlich der Fall war. Aristoteles war zwar widerlegt; doch nur deshalb, weil man ihn in den Jahrhunderten zuvor gründlich studiert hatte. Dass jenes Netzwerk sich im Laufe des 17. Jhdts. z.B. um wissenschaftliche Gesellschaften, höfische Akademien sowie private Labors und Werkstätten erweiterte, spricht nicht gegen, sondern für die Ausstrahlung der von der universitären Wissenschaft ausgehenden und sich gelegentlich von ihr emanzipierenden Bewegung.

 

 

Geschichte der Moderne

 

Von einer Geschichte der Moderne ist hier in zweierlei Hinsicht zu sprechen, einmal im Sinne eines Genitivus objectivus und ein weiteres Mal im Genitivus subjectivus. Es sind allein moderne Gesellschaften, die den hier vorgestellten Typ Geschichtsschreibung hervorbringen. Und diese Geschichtsschreibung erzählt wiederum nichts lieber als die Geschichte dieser modernen Gesellschaften, denn die Geschichte anderer Gesellschaften interessiert nur Sonderlinge und Käuze, die es , Gott sei Dank, immer wieder gibt. Das vorläufige Ergebnis dieser über viertausend Jahre gelegten Geschichtsdeutung: Vergleicht man die drei Nachfolgekulturen der mediterranen und imperialen Antike, also das griechische Byzanz, den arabischen Islam und das lateinische Frankenreich, so sind alle drei monotheistisch, aber nur der Nordwesten tradiert das antike Wissenschaftserbe auf breiter Front. Das ist umso erstaunlicher, als Griechen und Muslimen die Tradition historisch und geographisch und kulturell viel näherlag. Die einmalige Fusion zwei so unterschiedlicher Strömungen wie der griechischen Philosophie mit dem orientalischen Monotheismus im hellenistischen-römischen Imperium begründet den „europäischen Sonderweg“ in der Menschheitsgeschichte. Nur in einer der drei Nachfolgekulturen der untergehenden antiken Mittelmeerzivilisation überlebt diese Fusion, nicht im griechischen Byzanz, nicht im arabischen Islam, sondern im lateinischen Frankenreich, und dies dort vor allem dank der Abwesenheit eines mächtigen politischen Herrschaftszentrums. In den Hunderten von Klöstern und den Dutzenden von Universitäten, die sich in Europa ausbreiten, werden die antiken Überlieferungen seit der Scholastik gepflegt, wieder und wieder gelesen, abgeschrieben, interpretiert, weiterentwickelt und schließlich auch überwunden zugunsten revolutionärer Neuerungen. Immer aber ist dem wissenschaftlichen Denken ein Drang zur expansiven Universalisierung eigen. Nach dem Untergang Westroms fehlt eine Zentralgewalt, die diese variantenreiche, traditionskritische Entwicklung hätte steuern oder unterbinden können. Der Monotheismus hemmt und befruchtet diesen Prozess zugleich durch seinen konkurrierenden Universalisierungsanspruch: Alle Menschen werden als das Volk des einen Gottes Himmels und der Erde begriffen. Aus beiden von ihren Quellen her rivalisierenden Ansätzen gehen das Konzept der universalen wissenschaftlichen Methode ebenso wie die vornormative Bestimmung der universalen Menschenwürde und die vorstaatlichen Normen der Menschenrechte hervor. Inzwischen gibt es keine Region auf dem Planeten, die nicht in den Sog der aus der europäischen Geschichte hervorgehenden Modernisierungen geraten wäre. Die großen Konflikte sind somit durchweg Modernisierungskonflikte zwischen Modernisierungsalternativen und zwischen frühen und späten Modernisierern. Sollte es nicht klargeworden sein, dass soll es jetzt am Ende ausdrücklich betont werden: Modernisierungen sind moralisch nicht per se vorzugswürdig. Im Gegenteil, die Europäische Expansion hat hellsten Glanz und Abgründe des Grauens über die Menschen gebracht. Diese gesteigerte Ambivalenz ist es, die uns veranlasst, die Geschichte der Moderne und ihre Zukunft als Ganze ethisch auf den Prüfstand zu stellen.

 

 

[1]    Zu den ersten Hochkulturen zählen in Westasien und Nordafrika die Sumerer zwischen ca. 4.000 und 3.000 v. Chr. bis 2.000 v. Chr. in Mesopotamien, Elam ca. ab 3.500 v. Chr. bis 600 v. Chr. in Iran, Ägypten ca. ab 3.150 v. Chr. bis 395 n. Chr., Hatti (biblisch: Hethiter-Reich) ca. 2.000 bis 1.200 v. Chr. In Süd- und Ostasien zählen dazu die Indus- oder Harappa-Kultur ca. 2.800 v. Chr. bis 1.800 v. Chr. in Indien, China ca. 2.200 v. Chr. bis ca. 1.800 v. Chr., die Oasen- oder Oxus-Kultur ca. 2.200 v. Chr. bis 1.700 v. Chr. in Zentralasien. In Amerika zählen zu den Hochkulturen die Maya seit 3.000 v. Chr in Mexiko und Guatemala, die Stadt Caral in Peru um 2.627 v. Chr., die Olmeken ca. 1500 v. Chr. bis 400 v. Chr. in Mexiko, die Azteken zwischen dem 14. Jhd. bis Mitte 16. Jhd. n. Chr. in Mexico, die Inka vom 13. Jhd. bis Mitte 16. Jhd. n Chr. in Peru und Chile; vgl. Albertz, Rainer (2003): Frühe Hochkulturen - Ägypter - Sumerer - Assyrer - Babylonier - Hethiter - Minoer - Phöniker - Perser, Stuttgart; Bahn, Paul G. (2003): Der neue Bildatlas der Hochkulturen, Gütersloh.

[2]   Vgl. Vogelsang, Kai (20133): Geschichte Chinas, Stuttgart, 68-78.

[3]   Herzfeldt, Johanna (1968, Hrsg.): Die Räuber vom Liangschan, Leipzig.

[4]    Der russische Botaniker Nikolai Iwanowitsch Wawilow erklärte erstmals 1927 auf einem Kongress in Berlin die Entstehung der für die Ernährung der Menschheit maßgeblichen Kulturpflanzen aus den hohen Temperaturen bei großer Feuchtigkeit und relativ stabilem Klima in den Subtropen. Kartoffel und Reis, Tomate und Mais, Kaffee, Tee, Kakao und Tabak stammen nicht aus der norddeutschen Tiefebene, auch nicht aus dem Mittelmeerraum und auch nicht aus der nordamerikanischen Prärie oder der südamerikanischen Savanne sondern aus den heutigen Ländern Kolumbien, Ecuador, Peru, Brasilien, Republik Kongo, Madagaskar, China, Indien, Malaysia, Indonesien, Australien und Mexiko. Es gibt ca. 25 solcher Wawilow’schen Zentren, die nur 1,4 Prozent der Landfläche der Erde ausmachen; vgl. Lehmann, Christian / Mettin, Dieter / Dehne, Joachim (1987): Nikolai Iwanowitsch Wawilow (1887-1943), in: Archiv für Züchtungsforschung 17/1987, 331-336, 16ff., 73ff.

[5]   Mertens, Dieter (2004): Geschichte der politischen Ideen im Mittelalter, in: Fenske, Hans et al. (20042, Hrsg.): Geschichte der politischen Ideen, Frankfurt M., 141-238.

[6]   Vgl. am Beispiel der Zisterzienser Leroux-Dhuys, Jean-Francois / Gaud, Henri (1998): Die Zisterzienser. Geschichte und Architektur, Köln.

[7]   Vgl. Demandt, Alexander (1984): Der Fall Roms. Die Auflösung des römischen Reiches im Urteil der Nachwelt, München.

[8]   Leppin, Hartmut (2007): Theodosius der Große und das christliche Kaisertum, in: Meier, Mischa (2007, Hrsg.): Sie schufen Europa. Historische Portraits von Konstantin bis Karl dem Großen, München, 27-44.

[9]   Bleckmann, Bruno (2007): Attila, Aetius und das Ende Roms, in: Meier, Mischa (2007, Hrsg.): Sie schufen Europa. Historische Portraits von Konstantin bis Karl dem Großen, München, 93-110.

[10]   Vgl. Feldbauer, Peter / Liedl, Gottfried (2008): Die islamische Welt 1000 bis 1517, Wien.

[11]  Vogelsang, Kai (20133): Geschichte Chinas, Stuttgart, 440 ff.

[12]  Duchrow, Ulrich (1970): Christenheit und Weltverantwortung. Traditionsgeschichte und systematische Struktur der Zweireichelehre, Stuttgart; Böckenförde, Ernst-Wolfgang (20062): Geschichte der Rechts- und Staatsphilosophie. Antike und Mittelalter, Tübingen; Stümke, Volker (2007): Das Friedensverständnis Martin Luthers. Grundlagen und Anwendungsbereiche seiner politischen Ethik, Stuttgart; von Scheliha, Arnulf (2013): Protestantische Ethik des Politischen, Tübingen.

[13]  Vgl. Siemann, Wolfram / Freytag, Nils (2003, Hrsg.): Umweltgeschichte. Themen und Perspektiven, München; Walter, Rolf (2006): Geschichte der Weltwirtschaft. Eine Einführung, Weimar; Winiwarter, Verena / Knoll, Martin (2007): Umweltgeschichte. Eine Einführung, Stuttgart; Herrmann, Bernd (2013): Umweltgeschichte. Eine Einführung in Grundbegriffe, Berlin / Heidelberg; Kocka, Jürgen (2013): Geschichte des Kapitalismus, München; Schott, Dieter (2014): Europäische Urbanisierung (1000-2000). Eine umwelthistorische Einführung, Köln.

[14]   Vgl. Vogelsang, Kai (20133): Geschichte Chinas, Stuttgart, 371 ff.

[15]  Perler, Dominik (2006): Zweifel und Gewissheit. Skeptische Debatten im Mittelalter, Frankfurt M, 403-416.

[16]  Vgl. Dijksterhuis, Eduard J. (1956, Reprint 1983): Die Mechanisierung des Weltbildes, Berlin / Heidelberg / New York NY; Crombie, Alistair C. (1964): Von Augustinus bis Galilei. Die Emanzipation der Naturwissenschaften, Köln; Weisheipl, James A. (1980): Thomas von Aquin. Sein Leben und seine Theologie, Graz; Lindberg, David C. (1987): Auge und Licht im Mittelalter. Die Entwicklung der Optik von Alkindi bis Kepler, Frankfurt M; Wilderotter, Hans (1989): ›Der hat den großen Kommentar gemacht‹ - Aristoteles, Averroes und der Weg der arabischen Philosophie nach Europa, in: Sievernich, Gereon / Budde, Hendrik (1964, Hrsg.): Europa und der Orient, Gütersloh, 132-154.; Leff, Gordon (1993): Die Artes Liberales, in: Rüegg, Walter (1993ff., Hrsg.): Geschichte der Universität in Europa, Band 1 Mittelalter, 287-294.; Speer, Andreas (1995): Die entdeckte Natur. Untersuchungen zu Begründungsversuchen einer ›scientia naturalis‹ im 12. Jahrhundert, Leiden, New York NY, Köln; Rossi, Paolo (1997): Die Geburt der modernen Wissenschaft in Europa, München; Lindberg, David C. (2000): Die Anfänge des abendländischen Wissens, München; Speer, Andreas (2002): „Agendo phisice ratione” Von der Entdeckung der Natur zur Wissenschaft von der Natur, in: Berndt, Rainer et al. (2002,Hrsg.): „Scientia“ und „Disziplina“ Wissenschaftstheorie und Wissenschaftspraxis im 12. und 13. Jahrhundert, Berlin, 157-174; Honnefelder, Ludger (2005, Hrsg.): Albertus Magnus und die Anfänge der Aristoteles-Rezeption im lateinischen Mittelalter, Münster; Russo, Lucio (2005): Die vergessene Revolution oder die Wiedergeburt des antiken Wissens, Berlin / Heidelberg / New York; Perler, Dominik (2006): Zweifel und Gewissheit. Skeptische Debatten im Mittelalter, Frankfurt M.; Boshof, Egon (2007): Europa im 12. Jahrhundert: auf dem Weg in die Moderne, Stuttgart.; Achtner, Wolfgang (2008): Vom Erkennen zum Handeln. Die Dynamisierung von Mensch und Natur im ausgehenden Mittelalter, Göttingen; Halfen, Roland (2010): Chartres. Die Kathedralschule und ihr Umkreis. Schöpfungsbau und Ideenwelt im Herzen Europas, Stuttgart; Albertus-Magnus-Institut (2011, Hrsg.): Albertus Magnus und sein System der Wissenschaften: Schlüsseltexte in Übersetzung Lateinisch-Deutsch, Münster.

[17]  Albertus-Magnus-Institut (2011, Hrsg.): Albertus Magnus und sein System der Wissenschaften: Schlüsseltexte in Übersetzung Lateinisch-Deutsch, Münster, 17.

[18]  Rüegg, Walter (1993-2010, Hrsg.): Geschichte der Universität in Europa, Band 1 (1993): Mittelalter, 13.

[19]  Vgl. Mayeur, Jean-Marie et al. (1991-2004, dir.): Histoire du christianisme des origines à nos jours (14 Tomes), Paris; dt. Ausgabe Brox, Norbert et al. (1993-2004): Die Geschichte des Christentums: Religion, Politik, Kultur (14 Bde.), Freiburg Br., Bd. 5, 861-885; Rüegg, Walter (1993-2010, Hrsg.): Geschichte der Universität in Europa, München, Bd. 1, 24ff., 49ff.; für das besonders wichtige Gebiet der Rechtswissenschaften vgl. Berman, Harold (1991): Recht und Revolution. Die Bildung der westlichen Rechtstradition, Frankfurt M.

[20]  Rüegg, Walter (1993-2010, Hrsg.): Geschichte der Universität in Europa, Band 1 (1993): Mittelalter, 38.

[21]  Vgl. Wallerstein, Immanuel (1974 ff): The Modern World-System, Bd. I – IV, Berkeley CA; Braudel, Fernand (1979): Civilisation matérielle, économie et capitalisme (XVe – XVIIIe siècles), Paris; Crosby, Alfred W. (1972): The Columbian Exchange. Biological and Cultural Consequences of 1492, Westport.

[22]  Vgl. Feldbauer, Peter / Lehners, Jean-Paul (2008, Hrsg.): Die Welt 1000 – 2000, Bd. 3 Die Welt im 16. Jahrhundert, Wien, 27 ff.; Porter, Roy (1996): Die wissenschaftliche Revolution und die Universitäten, in: Rüegg, Walter (1993ff., Hrsg.): Geschichte der Universität in Europa, München, Band 2 Von der Reformation bis zur Französischen Revolution, 425-449.

[23]  Vgl. Wußing, Hans (2003): Die Große Erneuerung. Zur Geschichte der wissenschaftlichen Revolution, Basel; Hamel, Jürgen (2004): Die Geschichte der Astronomie. In Texten von Hesoid bis Hubble, Essen; Bieri, Hans / Masciadri, Virgilio (2008): Der Streit um das kopernikanische Weltsystem im 17. Jahrhundert, Bern; Nussbaumer, Harry (2011): Revolution am Himmel. Wie die kopernikanische Wende die Astronomie veränderte, Zürich.